"Das Stigma der Einsamkeit" - Gespräch mit Janosch Schobin
Der Soziologe Janosch Schobin forscht seit Jahren zu Freundschaft und Einsamkeit. Er sagt: "Was uns lebenslang am besten vor Einsamkeit schützt, ist ein Aufwachsen in einer sicheren, sozialen Welt mit stabilen Beziehungen."
Die Pandemie habe viele Fakten zur Einsamkeit auf den Kopf gestellt. So zeigen Erhebungen, dass mittlerweile vor allem junge Menschen mit Einsamkeitsbelastungen zu tun haben. In der Lebensphase, in der sie normalerweise neue soziale Netze knüpfen und ausbauen, sei das wegen Corona nicht möglich gewesen.
Grundsätzlich begünstigen Armut, schlechtere Bildungschancen, Arbeitslosigkeit, Diskriminierung und körperliche Behinderungen das Abrutschen in die Einsamkeit. Im Gespräch erläutert Janosch Schobin, warum das Gefühl der Einsamkeit für uns überlebenswichtig ist.
Herr Schobin, wir sind nicht nur einsam, wenn wir alleine sind, sondern wir können auch einsam in Gesellschaft sein, oder?
Janosch Schobin: Ja, genau. Und vor allen Dingen können wir auch in Beziehungen einsam sein. Einsamkeit wird in der Forschung verstanden als Missverhältnis zwischen Beziehungsbedürfnissen auf der einen Seite und dem, was die Beziehungen tatsächlich liefern, was sie an Qualitäten haben. Es hilft zum Beispiel nicht, 500 lose Bekannte zu haben, wenn man starke Bedürfnisse nach Nähe und nach Intimität hat. Das kann selbst in Beziehungen schwierig sein, weil zum Beispiel Beziehungen angeknackst sind, weil sie viel Stress produzieren. Es geht bei Einsamkeit ganz häufig auch um Probleme in Beziehungen.
Gerade im Alter brechen Beziehungen auseinander, weil zum Beispiel der Partner oder die Partnerin stirbt. Forschungen zeigen auch, dass diese Menschen innerhalb von sieben Jahren 50 Prozent ihrer Freundschaften verlieren. Ist das wirklich die Gruppe, die von Einsamkeit am meisten betroffen ist?
Schobin: Aktuell seltsamerweise nicht. Das war lange so: Seit den 90er-Jahren waren in Deutschland immer die Hochaltrigen, also Menschen über 75, die Gruppe, die die höchsten Einsamkeitbelastungen hatte. Mit der Pandemie hat sich das aber komischerweise umgedreht. Die jüngsten Daten, die wir haben, sind von 2021, und da waren es die jungen Menschen, die die höchsten Einsamkeitsbelastungen hatten. Dass junge Menschen häufig relativ einsam sind im Vergleich zu mittelalten Menschen, ist relativ normal, aber dass sie einsamer sind als die Hochaltrigen, das wiederum nicht. Das ist gerade der Stand der Dinge.
Wie erklären Sie sich das?
Schobin: Ich denke, dass die Pandemie disproportional junge Menschen um Gelegenheiten gebracht hat, ihr soziales Netz zu pflegen, aufzubauen, auszubauen. Man muss auch noch einpreisen, dass diese Lebensphase eine ist, wo man besonders viele Kontaktbedürfnisse hat, man auf ein breites Netz angewiesen ist. Das gehört zu der Phase dazu. In der Zeit haben die Menschen in der Regel die meisten Freunde und haben dementsprechend auch die meisten Bedürfnisse an Beziehungen. Die wurden am wenigsten befriedigt während der Pandemie. Da sind Lücken entstanden, weil die sozialen Netze von Menschen sehr dynamisch sind. Wir haben nicht immer den gleichen Freundeskreis, sondern der verändert sich im Leben sehr stark. Gerade im jungen Lebensalter gibt es da Umbrüche: Man verlässt die Schule, kommt auf die Universität, lernt dort neue Leute kennen und baut sich so ein Konvoi für die nächste Lebensphase auf. Das dürfte bei vielen schwierig gewesen sein und zu diesen erhöhten Einsamkeitsbelastungen geführt haben.
Es gibt Faktoren, die die Einsamkeit begünstigen, etwa gesellschaftliche Strukturen, die nicht so sind, dass es für einsame Menschen einfacher wird, aus der Einsamkeit herauszukommen. Was sind das für Faktoren?
Schobin: Bei uns in Europa gehören Armutsbelastungen dazu: schlechterer Zugang zu Bildung, zu Einkommen, zu Arbeit - das sind drei Faktoren, die bei uns indirekt dafür verantwortlich sind, dass man einsamer wird. Die Mechanismen sind da kompliziert. Was wir zum Beispiel von den Partnermärkten wissen, ist, dass es für Männer mit niedrigem Bildungsstand oder niedrigerem Einkommen wesentlich schwieriger ist, eine Partnerin oder einen Partner zu finden. Oder Arbeit: Arbeit gibt einem Zugang zu Anerkennung, zu Ressourcen, damit man mit Freunden ausgehen kann und in der Konsumgesellschaft dabei sein kann. Das ist wichtig, dass man auch diesen Statuskonsum haben kann, der zeigt, dass man dazugehört, dass man zur gleichen Gruppe gehört. Das braucht man leider Gottes in unseren Gesellschaften, und das fehlt dann, wenn man keine Arbeit oder kein Einkommen hat. Diese plausiblen Mechanismen belasten indirekt die Gelegenheiten zu Beziehungen führen dazu, dass Menschen einsamer werden.
Das Gespräch führte Andrea Schwyzer. Das komplette Interview hören Sie oben auf dieser Seite - und in der ARD Audiothek.