Björn Vedder © Georgine Treybal Foto: Georgine Treybal
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AUDIO: Björn Vedder über den Mythos vom besseren Leben auf dem Land (9 Min)

Björn Vedder über den Mythos vom besseren Leben auf dem Land

Stand: 28.03.2024 17:15 Uhr

Der Philosoph Björn Vedder ist von der Stadt aufs Dorf gezogen und hat seine Erfahrungen in dem Essay "Das Befinden auf dem Lande" verarbeitet. Seine These: Landleben mache reaktionär und hole das Schlechteste aus dem Menschen heraus.

Herr Vedder, leben Sie denn wirklich auf dem Land? Es handelt sich immerhin um eine wohlhabende Gemeinde direkt am Ammersee. Manche würden sagen, es sei noch der erweiterte Speckgürtel Münchens.

Björn Vedder: Ich glaube, man muss das Land mental verstehen und nicht geografisch. Dorf ist da, wo es ein Zentrum geht, wo die Menschen sich treffen und wo es eine vorherrschende Mentalität gibt, der man entsprechen muss, wenn man im Dorf anerkannt sein und ankommen möchte.

Ein sauberer, roter und ein schwarzer, schmutziger Gummistiefel sind auf dem Cover Ihres Buchs zu sehen; es trifft hier also ein Modeaccessoire auf einen echten Arbeitsschuh. "Leben, wo andere Urlaub machen", schrieb ihr Vermieter, und Sie schreiben, Sie seien drauf reingefallen. Was haben Sie erwartet, und was haben Sie dann vorgefunden?

Vedder: Das Land wird einem präsentiert wie in so einer Art Tourismus-Broschüre: Man denkt, man fährt dahin, und es ist immer schönes Wetter, alle Menschen sind gut drauf, und man lebt quasi wie im Urlaub, ohne Sorgen und unbeschwert, wie früher die Götter im Paradies oder so. Aber was man vorfindet, das ist wirklich wie Auswandern aufs Land: Man kommt in eine Form von Gemeinschaft, deren Regeln man sich unterwerfen muss und die auch ein großes Maß an sozialer Kontrolle ausübt. Mit der muss man erstmal zurechtkommen.

Zusammenhalt ist das Schöne auf dem Land, hat aber auch eine Kehrseite, nämlich die starke soziale Kontrolle. Die Sitten und Gesetze, lese ich bei Ihnen, trennen die Menschen viel mehr, als dass sie sie verbinden. Sittlichkeit und Moral werfen Sie nicht in einen Topf, sondern machen da einen großen Unterschied, oder?

Buchtipp

Das Befinden auf dem Lande. Verortung einer Lebensart
von Björn Vedder
HarperCollins Verlag
160 Seiten
ISBN: 978-3-365-00482-1
22 Euro

Vedder: Das Problem bei Gemeinschaften ist, dass sie dazu neigen, sich auf Werte zu beziehen und damit auch die ganz normalen Fragen, wie man das Leben praktisch meistert, moralisch bewerten. Aus Gut und Schlecht wird dann Gut und Böse. Sobald ich mein Leben selber als Wert auffasse, muss ich den anderen, der es anders macht, abwerten. Diese Formen der Abwertung, das ist die unangenehme Seite - die soziale Kontrolle, bei denen die auf dem Land leben. Während Moral im Grunde bedeuten würde, mich selbst zu fragen, inwiefern ich meine eigene Lebensweise dem anderen Menschen zumuten kann.

"Landleben nährt die Niedertracht", lesen wir hier auch. Gemeinschaft mache gemein. Ein bisschen gemein sind Sie auch: Der Ammersee, das sei dieser See, wo vasektomierte Männer mit kühlenden Hosen bei Wingfoilen anzutreffen sind, also eine Variante des Kitesurfens. Ein bisschen lustig und mit schwarzem Humor darf eine Abrechnung wie diese in Buchform schon sein - oder ist das womöglich gar keine Abrechnung, sondern eine Klage?

Vedder: Das Buch ist ein bisschen polemisch aufgenommen worden, war aber gar nicht polemisch gemeint, sondern eher als ein Versuch einer humorvollen Beschreibung. Ich habe auch von vielen Leuten, auch von diesen Wingfoilern gehört, dass die die Sache genauso sehen. Sie sagen: Wir haben das gelesen und Du hast vollkommen recht. Wir müssten darüber vielleicht auch noch mal reden, denn wir selber haben auch das Gefühl, dass wir unter dieser sozialen Kultur, die wir selber mitprägen, auch leiden.

Das ist interessant, denn teilweise lese ich bei Ihnen auch Verständnis heraus für das, was Sie beklagen. Sie schreiben, die Freiheit, mit der wir uns alle heute bewegen, ohne Rücksicht auf andere, habe unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt massiv zerstört. Ist die Sehnsucht nach Gemeinschaft also nicht nur ein dumpf reaktionäres Gefühl, sondern entspringt vielleicht auch mit Recht einem Unbehagen nach 70 Jahren Liberalismus?

Vedder: Selbstverständlich. Ich glaube, dass wir lange Zeit von zu starker Atomisierung und Rücksichtslosigkeit erfahren haben, in der nur das Recht des Stärkeren gilt und dem diese Sehnsucht nach Zusammenhalt vollkommen normal ist. Aber wenn wir darauf mit so einer Form von Gemeinschaft reagieren, die andere ausgrenzt, beschämt und die den Menschen vorschreibt, was sie wollen sollen, dann kommen wir vom Regen in die Traufe.

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Sie wollen das Landleben nicht unbedingt schlecht machen, sondern hinweisen auf den Trend zur "mentalen Verdörflichung" und zur "Selbstprovinzialisierung". Erklären Sie das bitte.

Vedder: Ich glaube, provinziell wird eine Gesellschaft dann, wenn sie versucht, eine bestimmte vorherrschende Form von Mentalität gegenüber anderen durchzusetzen, wenn sie illiberal ist in dem Sinne, dass eine bestimmte Gruppe glaubt, die Sache, wie sie es macht, sei gut und richtig, und alle anderen müssten dasselbe wollen. Und wenn sie Techniken wie Ausgrenzung, Beschämung und so weiter benutzt, um diese Wünsche und Ziele durchzusetzen. Das gibt es überall. Ein Freund von mir arbeitet in München bei einem Automobilhersteller, und wenn Sie da mittags eine Currywurst essen wollen, kriegen Sie die nicht mehr in der Kantine, sondern müssen über den ganzen Parkplatz laufen zu einer Frittenbude ganz am Ende. Das heißt, Sie müssen da auch so eine Art "walk of shame" durchmachen. Das haben sich nicht die Reaktionären ausgedacht, sondern das kommt eher aus einer linksalternativen Ecke. Ich habe das Gefühl, dass wir als Gesellschaft dazu neigen, insgesamt zu provinzialisieren. Wer also wissen möchte, wie das bei uns aussehen könnte, wenn das so weitergeht, der soll mal aufs Dorf ziehen.

Zeitschriften wie "Landlust" werden vor allem von Städtern geschrieben. "Der große Garten" von Lola Randl, "Daheim" von Judith Hermann oder der Roman "Unterleuten" von Juli Zeh: Die Sehnsucht nach dem vermeintlich einfacheren Leben auf dem Lande ist groß. Und dann sind manche desillusioniert, wenn dann nachts riesige beleuchtete Maschinen über die Felder rumpeln - anderen gefällt's. Vielleicht sind Sie einfach nicht so der Landmensch.

Vedder: Ich kann mir ehrlich gesagt ein Leben in der Stadt gar nicht mehr vorstellen. Auf dem Land gibt es auch wahnsinnige Vorteile: Meine Kinder können unglaublich autonom leben, ich genieße die schöne Natur, ich kann von meinem Garten aus baden gehen. Und auch diese Lage, dass man auf dem Dorf wie so ein Zaunkönig auf das Getriebe in den Metropolen schauen kann und eine sichere Distanz hat, gefällt mir auch ganz gut.

Ich frage mich, wie lange es wohl dauern wird, bis Ihre Nachbarn auf dem Land dieses Buch gelesen haben werden.

Vedder: Viele haben es schon gelesen. Es gab auch schon einige Interviews für die Zeitung und so weiter. Ich glaube, die meisten finden es ganz gut. Ich habe noch keine negativen Reaktionen bekommen.

Als Gegenmittel gegen die Provinzialisierung im Geiste, die Sie beklagen, schlagen Sie allen Ernstes eine Urbanisierung des Ländlichen vor - also eine Nachverdichtung.

Vedder: Man sieht auf dem Land, dass Menschen relativ räumlich entfernt, aber sozial eng zusammenleben. Ich glaube, wenn immer mehr Menschen auf dem Land leben, dass das dann kippen muss. Und ich glaube, dass das ein Trend ist, der sich ergeben könnte, dass das "Land" sich damit erledigt, indem immer mehr Menschen auf das schöne Land rausziehen - es gibt auch immer noch genug Land, wo keiner hinziehen möchte. Aber was ich eigentlich vorschlage, ist radikale Fremdheit: die Fremdheit und Andersartigkeit des anderen anzuerkennen und eben nicht Gemeinschaft zu suchen, sondern Respekt davor, dass der andere ein vollkommen anderer ist, mit ganz eigenen Wünschen und Zielen oder einer eigenen Herzensordnung, wie es bei Augustinus heißt.

Leben und leben lassen - das gilt vielleicht nicht unbedingt auf dem Land. Andersdenken ist auf dem Dorf auch nicht besonders gut angesehen - zumindest dort nicht, wo Sie leben. Häufig ist auch Überkompensation angesagt: um schon gar nicht den Verdacht aufkeimen zu lassen, man leide Mangel.

Vedder: Die Menschen ziehen raus aus der Stadt und verschulden sich bis zur Oberkante für ein Doppelhaus oder ein Einfamilienhaus. Und wenn sie dann eingestehen müssten, dass das vielleicht doch nicht so eine tolle Idee wäre, dann müssten sie sich ein Scheitern eingestehen. Man kann da nicht einfach wieder wegziehen. Deswegen gibt es, gerade auf dem Land, wo Städter hinziehen, den Versuch zu betonen, wie toll es bei uns ist, und wir bekennen uns zu unserer Liebe, zu unserer Heimat.

Das Interview führte Philipp Cavert.

Dieses Thema im Programm:

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