Armin Nassehi über das Polykrisen-Jahr 2023
Armin Nassehi spricht über die Krisen der Zeit, die vermeintliche Spaltung der Gesellschaft und unsere Aufmerksamkeitsökonomie. Ein Rückblick auf das Jahr 2023 aus soziologischer Sicht.
Was gibt es eigentlich zu feiern, wenn ein eher bedrückendes Jahr zu Ende geht, bei dürftiger Aussicht auf Besserung? Damit wir nicht ganz solchen Stimmungen und Launen verfallen, hat der Weltgeist zum Glück die Soziologie erfunden. Ihre besten Vertreter können eine spezielle Art Trost spenden, indem sie das Gefühl vermitteln, vieles ist zwar ziemlich blöd zurzeit, aber wenn er es erklärt, verstehe ich es wenigstens besser. Einer der renommiertesten Soziologen Deutschlands ist Armin Nassehi, Professor an der Ludwig-Maximilians-Uni in München und Autor vieler Bücher.
Fangen wir positiv an. Sie melden sich immer wieder öffentlich zu Wort, auch in diesem Jahr. Sie mischen sich ein, das heißt doch wohl, sie glauben noch daran, dass sich das lohnt, dass die Gesellschaft diskussionsfähig ist?
Armin Nassehi: Ja, das glaube ich schon. Bei aller Erfahrung würde ich doch sagen, dass wir den Blick vielleicht auch darauf verlieren, dass das meiste, wenn wir das im Weltmaßstab uns angucken, in Deutschland ja durchaus auch funktioniert. Also, wir haben natürlich auch so eine Aufmerksamkeitsökonomie, die Störungen eher zu sehen als das, was vergleichsweise gut funktioniert und deshalb glaube ich in der Tat daran. Aber es ist auch die Aufgabe eines Wissenschaftlers - zumindest eines Sozialwissenschaftlers - sich mit seinem Gegenstand nicht nur auseinanderzusetzen, sondern auch zu wissen, dass er dazugehört. Und dann muss man das eine oder andere auch sagen.
Es wird ja seit ziemlich langer Zeit schon von einer "Spaltung der Gesellschaft" gesprochen und von unüberwindlichen Gräben. Und da kam nun in diesem Jahr 2023 ihr Rostocker Kollege Steffen Mau veröffentlichte zusammen mit anderen das Buch "Triggerpunkte". Plötzlich hieß es dann in einigen Medien, das Land sei ja gar nicht so polarisiert. Was stimmt denn nun?
Armin Nassehi: Das ist auch eine begriffliche Frage. Ich würde Steffen Mau schon zustimmen, dass wir im Vergleich zu anderen Ländern nicht vollständig polarisiert sind. Also von einer polarisierten Gesellschaft würde man ja sprechen, wenn es eine Scheidelinie gibt, an der alles was stattfindet tatsächlich nach "Schwarz und Weiß" oder "rechts und links" oder "oben und unten" oder wie auch immer eingeteilt würde. Das ist in Deutschland nicht der Fall. Aber Steffen Mau sagt ja nicht, dass wir nicht polarisiert sind. Er sagt durchaus, dass es polarisierte Debatten um sogenannte Triggerpunkte herum gibt - also um Themen, die Aufreger sind. Also Themen, bei denen man sich dann tatsächlich zuordnen kann. Aber die Gesellschaft selbst ist, dem würde ich zustimmen, in dieser Weise nicht gespalten im Vergleich etwa zur amerikanischen. Das haben wir in Deutschland nicht.
Der Krieg gegen die Ukraine, die "Klima-Krise", "Energiepreis-Krise", Inflation, "Demokratie unter Druck" und spätestens seit dem Massaker der Hamas gegen Israel am 7. Oktober ist das Wort "Multikrise" allgegenwärtig. Wahrscheinlich war ja fast immer ein Vielerlei an Krisen gleichzeitig da. Was macht denn diese Gleichzeitigkeit der Krisen 2023 so speziell, wenn es denn eine spezielle Gleichzeitigkeit überhaupt sein sollte?
Armin Nassehi: Ich glaube schon, dass es eine spezielle Gleichzeitigkeit ist - daran kann man nicht vorbeisehen. Aber das Besondere ist vielleicht nicht die Quantität, sondern die Qualität dieser Krisen. Diese Krisen sind deshalb auch so aufregend und haben in der Aufmerksamkeitsökonomie eine besondere Bedeutung, weil sie Dinge sichtbar machen, die vorher eher latent geblieben sind. Zum Beispiel zeigen sie einem größeren Publikum, wie abhängig der Preis für das eigene Heizen ist im Vergleich zu geostrategischen Entscheidungen. Oder einem Publikum vorführen, dass manche Geschäftsmodelle, die das Land in den letzten Jahren sehr reich gemacht haben, von Dingen abhängig sind, die man selber nicht in der Hand hat. Oder die Frage nach der Sicherheitslage, die sich tatsächlich stellt, angesichts des Angriffs Russlands auf die Ukraine und der Diskussion darüber, ob eigentlich nach einer erneuten Wahl Donald Trumps die NATO noch das tun kann, was sie über Jahrzehnte getan hat - nämlich uns eine gewisse Sicherheit zu vermitteln.
Das sind ja alles Dinge, die auf nichts Neues verweisen. Diese Diskussion kennen wir schon länger, aber es wird einem Publikum vorgeführt, dass vieles - ich will es jetzt mal dramatisierend sagen - am seidenen Faden hängt. Dass diese Sicherheit also nicht einfach immer schon da ist, sondern dass sie hergestellt werden muss und mit relativ einfachen Mitteln in Frage gestellt werden kann. Soziologisch würde ich sagen, vieles von dem, was aus einem "Latenz-Bereich" stammt - also aus einem Bereich, den wir eigentlich meistens unsichtbar halten -, ist auf eine grelle Art sichtbar geworden, und das produziert sehr viele Unsicherheiten, und ich würde sagen mit Recht.
Das ganze Gespräch können Sie hier hören. Es führte Ulrich Kühn.