Anne Frank als KI-Version: Erinnerungskultur im Wandel
Neuerdings kursieren KI-generierte Anne-Frank-Videos auf TikTok. Heutzutage kann jeder mit entsprechender Software solche Fakes erzeugen - manche vielleicht in guter Absicht, aber die Gefahr von Geschichtsverfälschung droht.
Anne Frank ist wohl das bekannteste Opfer des Holocaust. Es gibt keine dokumentarischen Filmaufnahmen von ihr, aber einige Fotos und natürlich das berühmte Tagebuch, das in über 70 Sprachen übersetzt wurde. Deborah Schnabel leitet die Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt am Main. Sie zeigt uns eine Anne Frank, wie sie neuerdings im Netz kursiert: KI-generiert, als TikTok-Video.
"Ich finde, dass es ein super spannendes Phänomen ist. Es fällt für mich ganz klar in das Feld 'Erinnern im digitalen Raum' und zeigt, welche neuen Möglichkeiten es im Bereich der informellen Bildung gibt", sagt Deborah Schnabel. "Das kommt nicht von einem Creator, einer Creatorin, die an eine Gedenkstätte, einen Gedenkort gekoppelt ist. Das sind Menschen, die sich in ihrer Freizeit mit Geschichten beschäftigen und auf die Idee kommen, diese Persönlichkeit rauszupicken und sie KI-generieren zu lassen."
Wie vertrauenswürdig sind KI-generierte historische Persönlichkeiten?
"Kannst du mal bitte Anne Frank machen", wünschte sich eine Followerin - und der Creator machte. Anne steht jetzt neben Michael Jackson, Marilyn Monroe, dem Marquis de Sade und vielen anderen auf dem TikTok-Kanal "Promis der Geschichte". Es gibt zig KI-generierte Anne Franks im Netz. Wer heute Bildungsarbeit macht, muss das mitdenken, erklärt Schnabel: "Ich versetze mich immer in eine junge Person hinein, die im Internet unterwegs ist, ein bisschen recherchiert, sich treiben lässt und dann konfrontiert wird mit diesen ganz unterschiedlichen Zeitzeugnissen unterschiedlichster Quellen. Ich versuche immer zu verstehen: Wie schafft es eigentlich diese Person, sich da zurechtzufinden und zu beurteilen: Wem kann ich vertrauen und wem nicht?"
Diese Anne Frank behauptet, sie sei 1955 im Lager gestorben. Da hat sich die KI um zehn Jahre vertan: "Margot und ich erkrankten an Typhus. Im Februar 1955 starb Margot und kurz darauf verlor auch ich mein Leben im Alter von 15 Jahren", sagt KI-Anne-Frank im Video.
Historische Wahrheit und Simulation verschwimmen
KI-Bilder machen historischen Fotos und Quellen plötzlich Konkurrenz. 2023 zeigte eine Ausstellung in Ashkelon, Israel, KI-generierte Bilder, die auf Erzählungen von Holocaust-Überlebenden basieren. Sie wählten aus, welche Kreation der KI-Software ihrer persönlichen Erinnerung am nächsten kommt. Historische Wahrheit und Simulation verschwimmen immer mehr.
"Gerade über den Holocaust, die verschiedenen Ghettos und die Befreiung in den Konzentrationslagern haben wir alle sehr markante, schlimme Bilder im Kopf", erzählt Schnabel. "Wenn jetzt neue Bilder in den Umlauf kommen, konstruiert sich auch unser Geschichtsbewusstsein neu und kann dadurch verwässern. Oder es können Informationen über Bilder vermittelt werden, die gar nicht der Wahrheit entsprechen, zum Beispiel, wie es in den Ghettos ausgesehen hat. Wenn wir KIs haben, die durch KI trainiert werden, also wiederum die KI-generierten Bilder als Datenbasis haben, verändert sich die Realitätskonstruktion immer weiter."
Die Kontrolle zu behalten, ist kaum möglich
Wer war Anne Frank? Vielleicht lernt das demnächst eine KI von einer anderen KI - inklusive der Fehler und Verzerrungen. Im Netz gibt es alles: ernst gemeinte Auseinandersetzung mit dem Holocaust, fehlerhafte Geschichten und auch Leugnung. "Darüber die Kontrolle zu behalten, ist etwas, was kaum möglich ist. Das bereitet mir etwas Sorge, wenn ich mir anschaue, wie wenig weit wir beispielsweise in der Medienkompetenzbildung sind, weil junge Menschen noch viel zu wenig kritisch hinterfragen, was sie im Netz zu Gesicht bekommen", sagt Schnabel.