Alan Gilbert, Chefdirigent des NDR Elbphiharmonie Orchesters, im Porträt © NDR Foto: Marco Borggreve
Alan Gilbert, Chefdirigent des NDR Elbphiharmonie Orchesters, im Porträt © NDR Foto: Marco Borggreve
Alan Gilbert, Chefdirigent des NDR Elbphiharmonie Orchesters, im Porträt © NDR Foto: Marco Borggreve
AUDIO: Alan Gilbert zur US-Wahl: "Das Land hat seine Orientierung verloren" (7 Min)

Alan Gilbert zur US-Wahl: "Das Land hat seine Orientierung verloren"

Stand: 06.11.2024 17:02 Uhr

Der 78-jährige Republikaner Donald Trump hat die US-Präsidentenwahl gewonnen. Der Dirigent Alan Gilbert zeigt sich im Interview wenig erfreut darüber: "Ich war noch nie so pessimistisch wie heute."

Alan Gilbert wurde 1967 in New York City geboren. Er war von 2009 bis Juni 2017 Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker und ist seit September 2019 Chefdirigent des NDR Elbphilharmonie Orchesters.

Weitere Informationen
Donald Trump nach seinem Wahlsieg 2024. © dpa bildfunk/AP Foto: Alex Brandon

Donald Trump gewinnt US-Präsidentenwahl

Der Republikaner sicherte sich die nötige Zahl an Wahlleuten. Kanzler Scholz gratulierte ihm bereits. Alle Infos zur US-Präsidentschaftswahl bei tagesschau.de. extern

Herr Gilbert, wie haben Sie die letzten Stunden erlebt - haben Sie die Wahlnacht verfolgt?

Alan Gilbert: Ich hoffe, es ist okay, dass ich auf englisch antworte. Ich bin zu aufgeregt, um all das, was ich zu sagen habe, auf deutsch zu sagen. Ganz ehrlich, ich kann einfach nicht glauben, dass wir jetzt, acht Jahre später, wieder hier stehen und darüber reden müssen. Was für ein erbärmlicher Zustand, in dem sich die Welt befindet.

Ich bin nicht die ganze Nacht aufgeblieben, um die Ergebnisse der Wahl zu verfolgen. Aber es war klar, als ich schlafen ging, dass es nicht unbedingt in die richtige Richtung geht. Das ist wirklich ein komisches Gefühl für mich als Amerikaner, zu sehen wie dieses Land seine Orientierung verloren hat. Wie zynisch!

Das war ganz klar eine bewusste Strategie, die Leute ungebildet und desinformiert zu halten. Für diejenigen, die an der Macht sind, scheint das zu funktionieren. Es ist traurig zu sehen, dass die Mehrheit der Amerikaner für etwas gestimmt hat, das ihnen letztendlich schaden wird. Diese ganze Idee, dass früher alles besser war und wir wieder zurück müssen in die sogenannten goldenen Zeiten - rein faktisch betrachtet sind die Dinge heute doch besser als je zuvor! Aber die Leute werden gerne in dem Glauben gelassen, dass immer andere Schuld an dem Ganzen sind und man sich deshalb vor denen schützen muss.

Ich werde nicht aufgeben und versuchen weiterhin hoffnungsfroh zu bleiben. Aber ehrlich gesagt war ich noch nie so pessimistisch wie heute. Es sieht nicht nur in Amerika so düster aus. Überall gibt es extreme Tendenzen, und ich hoffe, dass es sich irgendwann wieder einpendeln und in die richtige Richtung gehen wird.

Wie so oft werden dann diejenigen, die verantwortlich sind für das ganze Chaos und den angerichteten Schaden, sich aus der Verantwortung ziehen und leugnen, auf der falsche Seite der Geschichte gestanden zu haben. Lassen Sie uns die Daumen drücken, dass sich die Menschheit nicht irgendwann selbst zerstört.

Weitere Informationen
Alan Gilbert, Chefdirigent des NDR Elbphiharmonie Orchesters, dirigiert in der Elbphilharmonie. © NDR Foto: Marco Borggreve

Alan Gilbert: Konzertmitschnitte & mehr

Konzertmitschnitte, Interviews, Podcastfolgen und mehr mit dem Chefdirigenten des NDR Elbphilharmonie Orchesters. mehr

Sie waren acht Jahre lang Chefdirigent der New Yorker Philharmoniker und sind darüber hinaus gut mit der US-amerikanischen Musik- und Kulturszene vernetzt. Was hören Sie aktuell von Ihren Freunden und Bekannten?

Gilbert: Dieses Land ist so gespalten, und ich habe absolut nichts zu tun mit denjenigen, die diesen wirklich üblen Mann gewählt haben. Ich glaube, wir leben in unterschiedlichen Blasen. In meinem Bekanntenkreis ist kaum jemand zu finden, der politisch anderer Meinung ist als ich. Klar gibt es hier und da gesunde Meinungsunterschiede, aber grundsätzlich sehen wir die Dinge ähnlich. Wir hatten gehofft, dass Trump nicht gewählt wird.

Kunst ist irgendwo verbunden mit Politik, aber gleichzeitig auch getrennt davon. In diesen herausfordernden Zeiten ist es nie wichtiger gewesen, nach der Wahrheit zu suchen. Und darum geht es in der Kunst: um die Suche nach der Wahrheit. Ich zum Beispiel arbeite damit, meine Meinung zu sagen. Das ist nicht jedermanns Sache und das ist okay. Ich sehe Kunst nicht zwingend als politisches Werkzeug. Zugleich ist die Grundlage einer jeden großen Kunst, die Wahrheit und unseren Wissens- und Erfahrungsreichtum zu feiern. Das legte sozusagen das Fundament der Aufklärung. Und genau darum ist es jetzt wichtiger denn je, dass wir als Kulturschaffende so leidenschaftlich arbeiten wie nie zuvor.

Was müsste passieren, um die aktuelle gravierende Spaltung in den USA aufzuheben?

Gilbert: Das wird ein sehr langer Prozess werden, denn hier geht's um eine kulturelle Spaltung. Und wenn da Menschen sind, die kein Interesse daran haben, Dinge zu hinterfragen, für die Fakten nichts bedeuten, dann ist es sehr schwer, eben diese Menschen umzustimmen. Ich hoffe nur, dass die Qualität, nach der Wahrheit zu suchen, nicht vollends ausstirbt. Aber solange die Machtinhaber es in der Hand haben, den Zugang zu Bildung zu unterbinden und das Leben der Menschen auf einem niedrigen Niveau zu halten, so dass die unzufrieden bleiben und das Gefühl haben, dieses Regime weiter unterstützen zu müssen, werden wir es schwer haben.

Weitere Informationen
Donald Trump in Siegerpose © Evan Vucci/AP Foto: Evan Vucci

US-Wahl: Wie der Norden auf Trumps Wahlsieg reagiert

Viele Politikerinnen und Politiker sind sich einig: Deutschland muss in Zukunft wirtschaftlich und sicherheitspolitisch unabhängiger werden von den USA. mehr

Was glauben Sie, wie wird das deutsch-amerikanische oder europäisch-amerikanische Verhältnis in Zukunft aussehen?

Gilbert: Am Ende geht es doch um zwischenmenschliche Beziehungen. Und mir als Amerikaner ist die aktuelle Lage wirklich unangenehm. Ich hoffe, dass man mich weiterhin als Mensch wahrnimmt und nicht als Teil einer Vorstellung davon, wie alle Amerikaner sein müssen. Denn es ist klar, dass nicht alle Amerikaner gleich sind, genauso wenig, wie alle Deutschen gleich sind.

Politisch gesehen, mit Blick auf die NATO und so weiter, bin ich ziemlich nervös. Ich habe echt keine Ahnung, was passieren wird. Aber ich setze auf die Möglichkeit, dass sich Menschen auch in Zukunft verstehen werden. Daran müssen wir einfach glauben.

Das Gespräch führte Julia Westlake.

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 06.11.2024 | 16:15 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Klassik

Kulturpolitik

Cover von "Wirklich noch mal Trump, Amerika?" © Screenshot
1 Min

Wirklich nochmal Trump, Amerika?

Ingo Zamperoni beobachtet den Kampf ums Weiße Haus mit all seinen dramatischen Wendungen. 1 Min

Marie-Agnes Strack-Zimmermann spricht in einem Interview. © dpa-Bildfunk Foto: Kay Nietfeld
4 Min

Strack-Zimmermann zu US-Wahl: "Die Zeit des Wurschtelns ist vorbei"

Trump werde knallhart einfordern, dass Europa seinen Teil zur Verteidigung beiträgt. Dazu sei nun politischer Wille statt Klein-Klein nötig, sagt die FDP-Europaabgeordnete auf NDR Info. 4 Min

Hamburgs Wirtschaftssenatorin Melanie Leonhard (SPD) auf einer Dienstreise in Polen. © NDR/ Dietrich Lehmann Foto: Dietrich Lehmann

Leonhard setzt nach Trump-Sieg auf stärkere Zusammenarbeit Europas

Hamburgs Wirtschaftssenatorin Melanie Leonhard sieht durch den Wahlsieg von Donald Trump in den USA große Herausforderungen. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur erzählt die Geschichte von Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Eine Frau in Rosa, eine in dunkler Kleidung mit grüner Haut - Szene aus dem Film "Wicked" © Universal Studios. All Rights Reserved.

"Vaiana 2", "Wicked", "Die Heinzels" & Co.: Filme für Weihnachten

Mit "Vaiana 2" läuft das obligatorische Disney-Animationsmärchen in den Kinos. In den Mediatheken gibt es weitere Blockbuster für die Familie. mehr