Stand: 09.10.2013 16:18 Uhr

100 Jahre Kunst und Exzesse am Lerchenfeld

Künstler feiern an der Hochschule für bildende Künste am Lerchenfeld © HFBK Lerchenfeld / Rolf Franck Foto: Rolf Franck
Feiern, bis der Arzt kommt - oder die Sittenpolizei: Über die Stränge zu schlagen hat an der HFBK Tradition.

"Gegen vier Uhr morgens, wenn die Bands wegen Erschöpfung nicht mehr spielen konnten, entwickelte sich eine Art Elysium in den Festsälen. Auf Fensterbänken, Treppenabsätzen, Heizkörpern oder Biertischen sanken Jungens und Mädchens dahin [...] Den Begriff Gruppensex gab es damals noch nicht. Man machte es eben einfach, ohne der Tätigkeit, die man da vollzog, einen Namen zu geben. Und das war es, was dem Li-La-Le noch heute diesen unglaublichen Nimbus gibt."

Sittenlos. Zügellos. Schlicht unerhört findet mancher Hamburger, was sich bei den Künstlerfesten an der Hochschule für bildende Künste (HFBK) am Lerchenfeld lange Zeit abspielt - und nun im Festglossar zum 100. Geburtstag des damals so innovativen Gebäudes in Anekdoten und Zitaten von Till Briegleb anschaulich beschrieben wird.

Feiern, bis die Wände wackeln

Legendär sind die als Li-La-Le, der Abkürzung für "Lieben, Lachen, Lerchenfeld", bekannten Faschingsgaudis. Als bei einer solchen Veranstaltung in den 1960er-Jahren junge Menschen im Adams- beziehungsweise Evaskostüm in ein Plantschbecken hopsen und zudem nachgemalte Pornos die Wände zieren, hat ein Oberfeldwebel a.D., der das Fest besucht, genug. Er ruft die Polizei. Die Bilder werden beschlagnahmt und das Li-La-Le wenig später verboten. Offiziell allerdings nicht wegen sittlicher Verwahrlosung. Es heißt, Statik und Standfestigkeit des Gebäudes seien durch die Tanzenden gefährdet.

Vor 100 Jahren Einweihung des Schumacher-Baus

Über eine derartige Begründung hätte Fritz Schumacher, Hamburgs bekanntester Stadtplaner und Architekt des grundsoliden Gebäudes, vermutlich nur geschmunzelt. 100 Jahre nach seiner Einweihung im Oktober 1913 steht der gedrungene Backsteinbau bis heute am Eilbek-Kanal in Hamburg-Uhlenhorst, als könne ihn nichts erschüttern.

"Ganz Hamburg ist eingeladen - Eintritt frei"

Der runde Geburtstag der HFBK am Standort Lerchenfeld wird selbstverständlich mit einem rauschenden Künstlerfest gefeiert. "Ganz Hamburg ist eingeladen - und natürlich ist der Eintritt frei", betont Präsident Martin Köttering und schwärmt schon im Vorfeld von dem mehrtägigen "exzessiven" Festprogramm (9. bis 11. Oktober) mit spektakulären Inszenierungen, Musik und Symposien.

Das Feiern und Über-die-Stränge-Schlagen sei seit jeher wesentlicher Bestandteil der HFBK, sagt Köttering. "Es gehört ja zum Künstlerwesen, gesellschaftliche Normen und Werte zu hinterfragen" - und eben auch, Tabus zu brechen.

Mehr als ein bunter Anarcho-Haufen

Dabei sind die Lehrenden und Studierenden weit mehr als ein bunter Anarcho-Haufen, der sich bei den Partys am Lerchenfeld im Namen der Kunst "einen zwitschert". Von etwa 1.200 Bewerbern pro Jahr schafft es gerade einmal jeder Zehnte. "Eine bestimmte künstlerische Energie und unbedingter Wille" seien entscheidender als handwerkliches Geschick, beschreibt Köttering die Aufnahmekriterien.

Loriot von Lehrer-Kritik tief getroffen

Bei der Auswahl ihrer Studierenden wie auch des Lehrpersonals haben die Verantwortlichen bisher überaus gutes Gespür gezeigt. So hat die HFBK zahlreiche berühmte Künstler hervorgebracht - von denen allerdings mancher Startschwierigkeiten hatte.

Bernhard-Viktor Christoph Carl, genannt Vicco, von Bülow zum Beispiel. Als ein von ihm gezeichneter Papagei Ende der 1940er-Jahre von einem Lehrer mit einem ironischen Kommentar zunichte gemacht wird, durchleidet er "den Augenblick mit seiner ganzen Schande", schreibt er in seinen Memoiren. Die Entscheidung, statt Tierzeichner lieber Cartoonist zu werden und sich Loriot zu nennen, erweist sich für den HFBK-Studenten als Auftakt für eine Humoristen-Karriere sondergleichen.

Otto entwirft lieber Rüsseltiere als Unterrichtsstunden

Auch "Friesenjung" Otto Waalkes studiert am Lerchenfeld. Weil er für sein Wunschfach Freie Kunst keinen Platz ergattern kann, schreibt er sich zunächst für Kunstpädagogik ein. Statt Unterrichtsstunden entwirft er jedoch lieber Rüsseltiere - die späteren "Ottifanten". Andere berühmte HFBK-Studenten sind Filmgrößen wie Fatih Akin und Oliver Hirschbiegel, auch Schauspielerin Iris Berben mischt als junge Frau in der Kunstszene am Lerchenfeld mit.

Beuys und Hundertwasser als Gastprofessoren

Als Gastprofessoren lehren unter anderem Weltstars der Branche wie Joseph Beuys und Friedensreich Hundertwasser, der 1959 von einem Heizkörper der Hochschule aus das berühmte Projekt der "Unendlichen Linie" startet. Vom Lerchenfeld aus soll die Linie über den Stadtteil Barmbek bis zur Außenalster reichen. Dem damaligen HFBK-Direktor wird die große Öffentlichkeitswirkung der "stadtumspannenden Malaktion" jedoch zu bunt - er verbietet sie. Dies erzürnt hinwiederum Hundertwasser derart, "dass er einen offenen Brief an den Kultursenator schrieb und nicht wiederkam", wie es im Festglossar heißt.

HFBK will innovative Impulse setzen

Zahlreiche andere Ehemalige kehren hingegen aus allen Teilen der Welt zum Jubiläum an ihre Ausbildungssstätte zurück. Diese verstehe sich als "innovativer Impulsgeber" für kulturelles und gesellschaftliches Leben weit über Hamburgs Grenzen hinaus, erklärt Präsident Köttering. Was er der HFBK zum 100. Standort-Geburtstag wünscht? "Dass die Politik unsere Hochschule weiterhin finanziell so ausstattet, dass wir angemessen arbeiten können - und gleichzeitig das Freigeistige und die Autonomie der Hochschule als schützenswert betrachtet."

Erst einmal aber wollen Lehrende und Studierende gemeinsam mit allen interessierten Kunstfreunden feiern, bis die Wände wackeln - allerdings nur die sprichwörtlichen.

Dieses Thema im Programm:

NDR//Aktuell | 09.10.2013 | 15:00 Uhr

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