Sicherheit: Brauchen wir Atomwaffen?

Stand: 02.06.2022 12:00 Uhr

Der Krieg in der Ukraine hat die Angst vor atomaren Angriffen zurückgebracht. Und: Er hat deutsche Überzeugungen zu Atomwaffen ins Wanken gebracht.

von Robert Bongen, Hans Jakob Rausch & Jonas Schreijäg

Es ist ein offenes Geheimnis: Mitten in Deutschland, in Rheinland-Pfalz, liegen US-amerikanische Atomwaffen. Schätzungen zufolge sind es rund 20 Atombomben, die auf dem Gelände des Fliegerhorsts Büchel stationiert sind. Jede einzelne hat eine größere Sprengkraft als die Hiroshima-Bombe. Seit Jahrzehnten leben die Menschen in der Eifelgemeinde mit den Bomben in der Nachbarschaft. Doch angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine und der ständigen nuklearen Drohungen Putins wächst bei einigen im Ort die Sorge, irgendwann Ziel eines russischen Atomangriffs zu werden.

VIDEO: Sicherheit: Brauchen wir Atomwaffen? (10 Min)

Koalitionsziele nach wenigen Monaten überholt?

Der Krieg in der Ukraine hat die Angst vor atomaren Angriffen zurückgebracht. Und: Er hat deutsche Überzeugungen ins Wanken gebracht. In den Achtzigern gingen gegen nukleare Aufrüstung Millionen Menschen auf die Straßen. Auch in den letzten Jahren kamen aus der Politik, vor allem von SPD und Grünen, regelmäßig Forderungen, die Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen. Noch drei Monate vor dem Krieg formulierten die Ampel-Parteien in ihrem Koalitionsvertrag als Ziel "Deutschland frei von Atomwaffen".

Weitere Informationen
Dr. Claudia Major © NDR/ARD Foto: Screenshot

Sicherheitsexpertin Major: "NATO-Atomwaffen sind die ultimative Lebensversicherung"

Claudia Major ist Forschungsgruppenleiterin für Sicherheitspolitik in der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie sagt, die Bedeutung der nuklearen Abschreckung habe wieder zugenommen. mehr

Jetzt ist nicht mehr die Rede davon - im Gegenteil. Kurz nach Kriegsausbruch betonte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen): "Auch das hat uns der Krieg vor Augen geführt: Die nukleare Abschreckung der NATO muss glaubhaft bleiben." Im Rahmen seiner "Zeitenwende"-Rede kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an, die in Büchel stationierte überalterte Tornado-Flotte durch moderne Flugzeuge des Typs F-35 von Lockheed Martin ersetzen und damit Deutschlands Rolle in Hinblick auf die nukleare Abschreckungspolitik der NATO stärken zu wollen - nach jahrelanger Verzögerung. Im Ernstfall tragen diese Kampfjets die US-Bomben ins Ziel.

Panorama-Umfrage: Erstmals Mehrheit für US-Atomwaffen in Deutschland

Die Zeitenwende ist offenbar auch in den Köpfen der Bevölkerung angekommen. Eine Mehrheit der Deutschen spricht sich aktuell für den Verbleib von US-amerikanischen Atomwaffen in Deutschland aus. Das hat eine repräsentative Umfrage von infratest dimap im Auftrag von Panorama ergeben. 40 Prozent der Befragten sagen demnach, die Atomwaffen sollten unverändert stationiert bleiben, zwölf Prozent befürworten sogar eine Modernisierung und Aufstockung, nur 39 Prozent votieren für einen Abzug.

Weitere Informationen

Umfrage: "Die Haltung der Deutschen zu Atomwaffen"

Hier finden Sie die Umfrageergebnisse der repräsentativen Studie von infratest dimap im Auftrag von Panorama als PDF-Download. Download (121 KB)

Damit hat sich seit dem Krieg in der Ukraine auch die Haltung der Deutschen zu Atomwaffen verändert. In den vergangenen Jahren hatte es in vergleichbaren Umfragen sehr deutliche Mehrheiten für einen Abzug der US-Atomwaffen gegeben. Noch Mitte 2021 waren etwa laut einer Studie der Münchener Sicherheitskonferenz nur 14 Prozent der Befragten für US-Atomwaffen in Deutschland, eine Mehrheit von 57 Prozent wollte deren Abzug.

 

Der Traum von einer Welt ohne Atomwaffen - endgültig geplatzt?

Xanthe Hall ist Chefin der deutschen Sektion von ICAN, der internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, ausgezeichnet mit dem Friedensnobelpreis. Sie kämpft seit 40 Jahren gegen Atomwaffen. "Ich habe manchmal das Gefühl, ich lande wieder da, wo ich angefangen habe und muss immer wieder neu erklären, warum Atomwaffen schlecht sind oder was passiert, wenn man Atomwaffen einsetzen würde."

Xanthe Hall © NDR/ARD Foto: Screenshot
Xanthe Hall setzt sich als Chefin der deutschen Sektion von ICAN für die Abschaffung von Atomwaffen ein.

Ein nukleares Aufrüsten führt aus ihrer Sicht nicht zu mehr Sicherheit, sondern zum genauen Gegenteil. "Ich weiß, dass viele Leute meinen, jetzt ist die Antwort auf Putins Drohung, noch zurück zu drohen. Aber im Prinzip eskaliert das Ganze nur. Wenn wir so weiter machen, endet es dann irgendwann doch mal in einem Atomkrieg."

Christoph Heusgen sieht das anders. Er ist Chef der Münchner Sicherheitskonferenz und überzeugt: Die Politik der atomaren Abschreckung funktioniert. "Diese Politik hat Deutschland und Europa, hat der NATO seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Frieden garantiert; auf dem Gebiet der Mitglieder der NATO. Und wir sehen gerade wieder, auch angesichts der Drohungen, die wir aus Moskau hören, wie wichtig diese atomare Abschreckung bleibt."

Christoph Heusgen © NDR/ARD Foto: Screenshot
Christoph Heusgen ist Chef der Münchner Sicherheitskonferenz. Er verteidigt die Politik der atomaren Abschreckung.

Es ist die Logik aus dem Kalten Krieg, die jetzt auf einmal wieder zu gelten scheint. Geschützt ist der, der Atomwaffen hat. Deutschland schützen in dieser Logik die Atomwaffen der NATO. Zumindest solange die NATO so geeint ist, wie im Moment.

Ex-Trump Berater: NATO-Austritt bei zweiter Amtszeit wahrscheinlich

Nur: Was ist, wenn in zwei Jahren wieder Donald Trump US-Präsident werden sollte? Kein unwahrscheinliches Szenario. Und schon beim letzten Mal wollte Trump aus der NATO aussteigen, erzählt sein ehemaliger Sicherheitsberater, John Bolton im Interview mit Panorama: "Er war sehr kurz davor. Während des NATO-Gipfels 2018 in Brüssel sagte er zu mir, dass er an diesem Tag aussteigen wolle." Am Ende konnten Bolton und andere Trump vom NATO-Austritt gerade noch abhalten, doch bei einer möglichen zweiten Amtszeit könnte das anders sein, fürchtet Bolton: "Ein Rückzug aus der NATO würde viel wahrscheinlicher."

Weitere Informationen
Julia Berghofer © NDR/ARD Foto: Screenshot

Sicherheitsexpertin Berghofer: "Ziel einer atomwaffenfreien Welt nicht vollkommen hinfällig"

Julia Berghofer ist Sicherheitsexpertin beim European Leadership Network. Ihrer Meinung nach wird aktuell nüchtern und nicht mehr ideologisch über das Thema Atomwaffen diskutiert. mehr

Ein US-Präsident, der die NATO in Frage stellt? Gar austritt? In Deutschland werden Stimmen laut, sich über eigene Atomwaffen innerhalb der EU Gedanken zu machen, angesichts der nuklearen Drohungen Putins, aber auch falls ein künftiger US-Präsident erneut die NATO-Mitgliedschaft und die Sicherheitsgarantien in Frage stellen würde. Der Präsident der Europäischen Volkspartei (EVP), der CSU-Politiker Manfred Weber, sagte im Panorama-Interview: "Die heutige Europäische Union ist, das muss man mal ganz brutal sagen, nackt in einer Welt von Stürmen. Wir können uns als Europäer heute sowohl konventionell als auch nuklear nicht selbst verteidigen ohne die Partner von außen. Und das heißt, wir müssen jetzt auch über die nukleare Option reden."

Weitere Informationen
Thumb © NDR / ZEIT / FLIP

Putins brutaler Angriffskrieg: Warum jubeln viele Russen?

Überall in Russland wird die Werbetrommel für den Krieg in der Ukraine gerührt, der nicht so genannt werden darf. Doch was denken Russinnen und Russen über den Krieg? mehr

Auch der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, fordert, die nukleare Abschreckung innerhalb der EU weiter auszubauen: "In Hinblick auf den nuklearen Schutzschirm müssen wir mit Frankreich ins Gespräch kommen und über eine Ausweitung des französischen Atomprogramms diskutieren", so Heusgen gegenüber Panorama. Frankreich ist das einzige Land in der EU, das über Nuklearwaffen verfügt.

Macron hatte Deutschland Dialog über EU-Atomwaffen angeboten

Der französische Präsident Macron hatte seit 2020 mehrfach den EU-Staaten angeboten, über eine "nukleare Option" für die EU ins Gespräch zu kommen. "Ich weiß, das ist für Deutschland keine einfache Diskussion, aber wir müssen nüchtern darüber sprechen", sagte Macron 2020 auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Anfang 2022 erneuerte Frankreich das Dialog-Angebot. Die Bundesregierung hat darauf aber offenbar nie konkret reagiert.

Weitere Informationen
Sogenannter Atompiliz einer Atombombe nach dem Abwurf über der japanischen Stadt Nagasaki 1945. © dpa/picture-alliance

Donald Trump und US-Atombomben in Deutschland

Auf deutschem Boden sind US-Atomwaffen stationiert. Was bedeutet dies in Zeiten, in denen ein US-Präsident die NATO auch schon mal als "obsolet" bezeichnet? mehr

"Der Ball liegt bei der Bundesregierung", sagt Christophe Arend. Er ist Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung für die Partei von Präsident Macron und Vorsitzender der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung. Er fordert langfristig gemeinsame Atomwaffen für die EU: "Europa muss heute erwachsen werden und es allein schaffen. Und darum muss Europa diese nukleare Abschreckungskraft haben." Dafür sei es unbedingt notwendig, dass Frankreich und Deutschland einen gemeinsamen Weg finden. Der EVP-Vorsitzende im EU-Parlament, Manfred Weber, unterstützt diese Forderung: "In Brüssel ist klar, dass Frankreich das Angebot auf den Tisch gelegt hat und Deutschland sich der Debatte bisher verweigert. Und solange Deutschland sich nicht bewegt, wird es auch keine weitere europäische Diskussion geben."

Braucht die EU Atomwaffen? Noch zögert Deutschland. Aber was bis vor kurzem ein Tabu war, wird jetzt ernsthaft diskutiert. "Ich glaube, dass wir in freundschaftlicher Zusammenarbeit mit Frankreich gemeinsam über eine Ausweitung des französischen Nuklearprogramms diskutieren sollten", fordert der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen. Die Chefin von ICAN-Deutschland, Xanthe Hall, weist dagegen darauf hin, dass Atomwaffen zwar kurzfristig nach mehr Sicherheit klingen, aber langfristig die Gefahr eines Atomkrieges steigerten. "Diese Idee, der ultimative Lebensversicherung durch Atomwaffen finde ich extrem gefährlich, weil das bedeuten würde: Wir sind bereit, dann das Leben von Millionen Menschen aufs Spiel zu setzen", so Hall.

Eines scheint klar: Das Ziel einer atomwaffenfreien Welt ist so weit weg wie lange nicht mehr.

 

Weitere Informationen
Anna, die Ehefrau eines vor zwei Monaten getöteten Soldaten, und der Vater Oleksandr stellen auf dem Friedhof der Hafenstadt Odessa die ukrainische Nationalflagge am Grab ihres Ehemannes auf. (Foto vom 24. Februar 2024) © Kay Nietfeld/dpa

Zwei Jahre Ukraine-Krieg: Russlands Überfall und die Folgen

Am 24. Februar 2022 begann der Angriff. In der Ukraine starben mindestens 10.000 Zivilisten. mehr

Erdgaszuleitungen sind vor dem Heizkraftwerk 3 Stuttgart-Gaisburg zu sehen. © picture alliance/dpa | Marijan Murat Foto: Marijan Murat

Wie werden wir unabhängiger vom Gas? Eine Reise durch den Norden

Fast die Hälfte aller deutschen Wohnungen hängt noch am Gasnetz. Der Krieg in der Ukraine und der Klimawandel drängen zum Umdenken. mehr

Thumbnail: Ein Vater eines russischen Soldaten im rechten Bildbereich, im linken ein Videoausschnitt mit zwei unkenntlich gemachten Männern. © NDR Foto: screenshot

Russland: Die Eltern der Soldaten

Menschenrechtsorganisationen berichten von russischen Soldaten, die vom Krieg überrumpelt wurden. Was denken die Eltern? mehr

Thumbnail: Eine blonde Frau steht vor einer Ski-Piste und spricht in ein Mikrofon. © NDR Foto: screenshot

Reiche Russen: Angst vor Sanktionen?

In Frankreich machen sie Urlaub. Auf Zypern verstecken sie ihr Geld. Wie reiche Russen sich vor den Sanktionen retten. mehr

Ramstein © Screenshot

USA führen Drohnenkrieg von Deutschland aus

Erstmals müssen US- und Bundesregierung zugeben: Die US Air Base in Ramstein ist von zentraler Bedeutung für den weltweiten Drohnen-Krieg der USA. Panorama hatte dies bereits 2013 aufgedeckt. mehr

NDR Info: Streitkräfte und Strategien #Ukraine #Nahost © NDR

Streitkräfte und Strategien

Der NDR Info Podcast berichtet über den Krieg in der Ukraine. Dienstags und freitags ab 16.30 Uhr in der ARD-Audiothek. mehr

 

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 02.06.2022 | 21:45 Uhr

Über Panorama

Kalender © Fotolia.com Foto: Barmaliejus

Panorama-Geschichte

Als erstes politisches Fernsehmagazin ging Panorama am 4. Juni 1961 auf Sendung. Die Geschichte von Panorama ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. mehr

Anja Reschke © Thomas & Thomas Foto: Thomas Lueders

60 Jahre Panorama

60 Jahre investigativ - unbequem - unabhängig: Panorama ist das älteste Politik-Magazin im deutschen Fernsehen. mehr

Panorama 60 Jahre: Ein Mann steht hinter einer Kamera, dazu der Schriftzug "Panorama" © NDR/ARD Foto: Screenshot

Panorama History Channel

Beiträge nach Themen sortiert und von der Redaktion kuratiert: Der direkte Einstieg in 60 Jahre politische Geschichte. mehr