Sicherheit: Brauchen wir Atomwaffen?
Der Krieg in der Ukraine hat die Angst vor atomaren Angriffen zurückgebracht. Und: Er hat deutsche Überzeugungen zu Atomwaffen ins Wanken gebracht.
Es ist ein offenes Geheimnis: Mitten in Deutschland, in Rheinland-Pfalz, liegen US-amerikanische Atomwaffen. Schätzungen zufolge sind es rund 20 Atombomben, die auf dem Gelände des Fliegerhorsts Büchel stationiert sind. Jede einzelne hat eine größere Sprengkraft als die Hiroshima-Bombe. Seit Jahrzehnten leben die Menschen in der Eifelgemeinde mit den Bomben in der Nachbarschaft. Doch angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine und der ständigen nuklearen Drohungen Putins wächst bei einigen im Ort die Sorge, irgendwann Ziel eines russischen Atomangriffs zu werden.
Koalitionsziele nach wenigen Monaten überholt?
Der Krieg in der Ukraine hat die Angst vor atomaren Angriffen zurückgebracht. Und: Er hat deutsche Überzeugungen ins Wanken gebracht. In den Achtzigern gingen gegen nukleare Aufrüstung Millionen Menschen auf die Straßen. Auch in den letzten Jahren kamen aus der Politik, vor allem von SPD und Grünen, regelmäßig Forderungen, die Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen. Noch drei Monate vor dem Krieg formulierten die Ampel-Parteien in ihrem Koalitionsvertrag als Ziel "Deutschland frei von Atomwaffen".
Jetzt ist nicht mehr die Rede davon - im Gegenteil. Kurz nach Kriegsausbruch betonte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen): "Auch das hat uns der Krieg vor Augen geführt: Die nukleare Abschreckung der NATO muss glaubhaft bleiben." Im Rahmen seiner "Zeitenwende"-Rede kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an, die in Büchel stationierte überalterte Tornado-Flotte durch moderne Flugzeuge des Typs F-35 von Lockheed Martin ersetzen und damit Deutschlands Rolle in Hinblick auf die nukleare Abschreckungspolitik der NATO stärken zu wollen - nach jahrelanger Verzögerung. Im Ernstfall tragen diese Kampfjets die US-Bomben ins Ziel.
Panorama-Umfrage: Erstmals Mehrheit für US-Atomwaffen in Deutschland
Die Zeitenwende ist offenbar auch in den Köpfen der Bevölkerung angekommen. Eine Mehrheit der Deutschen spricht sich aktuell für den Verbleib von US-amerikanischen Atomwaffen in Deutschland aus. Das hat eine repräsentative Umfrage von infratest dimap im Auftrag von Panorama ergeben. 40 Prozent der Befragten sagen demnach, die Atomwaffen sollten unverändert stationiert bleiben, zwölf Prozent befürworten sogar eine Modernisierung und Aufstockung, nur 39 Prozent votieren für einen Abzug.
Damit hat sich seit dem Krieg in der Ukraine auch die Haltung der Deutschen zu Atomwaffen verändert. In den vergangenen Jahren hatte es in vergleichbaren Umfragen sehr deutliche Mehrheiten für einen Abzug der US-Atomwaffen gegeben. Noch Mitte 2021 waren etwa laut einer Studie der Münchener Sicherheitskonferenz nur 14 Prozent der Befragten für US-Atomwaffen in Deutschland, eine Mehrheit von 57 Prozent wollte deren Abzug.
Der Traum von einer Welt ohne Atomwaffen - endgültig geplatzt?
Xanthe Hall ist Chefin der deutschen Sektion von ICAN, der internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen, ausgezeichnet mit dem Friedensnobelpreis. Sie kämpft seit 40 Jahren gegen Atomwaffen. "Ich habe manchmal das Gefühl, ich lande wieder da, wo ich angefangen habe und muss immer wieder neu erklären, warum Atomwaffen schlecht sind oder was passiert, wenn man Atomwaffen einsetzen würde."
Ein nukleares Aufrüsten führt aus ihrer Sicht nicht zu mehr Sicherheit, sondern zum genauen Gegenteil. "Ich weiß, dass viele Leute meinen, jetzt ist die Antwort auf Putins Drohung, noch zurück zu drohen. Aber im Prinzip eskaliert das Ganze nur. Wenn wir so weiter machen, endet es dann irgendwann doch mal in einem Atomkrieg."
Christoph Heusgen sieht das anders. Er ist Chef der Münchner Sicherheitskonferenz und überzeugt: Die Politik der atomaren Abschreckung funktioniert. "Diese Politik hat Deutschland und Europa, hat der NATO seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Frieden garantiert; auf dem Gebiet der Mitglieder der NATO. Und wir sehen gerade wieder, auch angesichts der Drohungen, die wir aus Moskau hören, wie wichtig diese atomare Abschreckung bleibt."
Es ist die Logik aus dem Kalten Krieg, die jetzt auf einmal wieder zu gelten scheint. Geschützt ist der, der Atomwaffen hat. Deutschland schützen in dieser Logik die Atomwaffen der NATO. Zumindest solange die NATO so geeint ist, wie im Moment.
Ex-Trump Berater: NATO-Austritt bei zweiter Amtszeit wahrscheinlich
Nur: Was ist, wenn in zwei Jahren wieder Donald Trump US-Präsident werden sollte? Kein unwahrscheinliches Szenario. Und schon beim letzten Mal wollte Trump aus der NATO aussteigen, erzählt sein ehemaliger Sicherheitsberater, John Bolton im Interview mit Panorama: "Er war sehr kurz davor. Während des NATO-Gipfels 2018 in Brüssel sagte er zu mir, dass er an diesem Tag aussteigen wolle." Am Ende konnten Bolton und andere Trump vom NATO-Austritt gerade noch abhalten, doch bei einer möglichen zweiten Amtszeit könnte das anders sein, fürchtet Bolton: "Ein Rückzug aus der NATO würde viel wahrscheinlicher."
Ein US-Präsident, der die NATO in Frage stellt? Gar austritt? In Deutschland werden Stimmen laut, sich über eigene Atomwaffen innerhalb der EU Gedanken zu machen, angesichts der nuklearen Drohungen Putins, aber auch falls ein künftiger US-Präsident erneut die NATO-Mitgliedschaft und die Sicherheitsgarantien in Frage stellen würde. Der Präsident der Europäischen Volkspartei (EVP), der CSU-Politiker Manfred Weber, sagte im Panorama-Interview: "Die heutige Europäische Union ist, das muss man mal ganz brutal sagen, nackt in einer Welt von Stürmen. Wir können uns als Europäer heute sowohl konventionell als auch nuklear nicht selbst verteidigen ohne die Partner von außen. Und das heißt, wir müssen jetzt auch über die nukleare Option reden."
Auch der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, fordert, die nukleare Abschreckung innerhalb der EU weiter auszubauen: "In Hinblick auf den nuklearen Schutzschirm müssen wir mit Frankreich ins Gespräch kommen und über eine Ausweitung des französischen Atomprogramms diskutieren", so Heusgen gegenüber Panorama. Frankreich ist das einzige Land in der EU, das über Nuklearwaffen verfügt.
Macron hatte Deutschland Dialog über EU-Atomwaffen angeboten
Der französische Präsident Macron hatte seit 2020 mehrfach den EU-Staaten angeboten, über eine "nukleare Option" für die EU ins Gespräch zu kommen. "Ich weiß, das ist für Deutschland keine einfache Diskussion, aber wir müssen nüchtern darüber sprechen", sagte Macron 2020 auf der Münchner Sicherheitskonferenz. Anfang 2022 erneuerte Frankreich das Dialog-Angebot. Die Bundesregierung hat darauf aber offenbar nie konkret reagiert.
"Der Ball liegt bei der Bundesregierung", sagt Christophe Arend. Er ist Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung für die Partei von Präsident Macron und Vorsitzender der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung. Er fordert langfristig gemeinsame Atomwaffen für die EU: "Europa muss heute erwachsen werden und es allein schaffen. Und darum muss Europa diese nukleare Abschreckungskraft haben." Dafür sei es unbedingt notwendig, dass Frankreich und Deutschland einen gemeinsamen Weg finden. Der EVP-Vorsitzende im EU-Parlament, Manfred Weber, unterstützt diese Forderung: "In Brüssel ist klar, dass Frankreich das Angebot auf den Tisch gelegt hat und Deutschland sich der Debatte bisher verweigert. Und solange Deutschland sich nicht bewegt, wird es auch keine weitere europäische Diskussion geben."
Braucht die EU Atomwaffen? Noch zögert Deutschland. Aber was bis vor kurzem ein Tabu war, wird jetzt ernsthaft diskutiert. "Ich glaube, dass wir in freundschaftlicher Zusammenarbeit mit Frankreich gemeinsam über eine Ausweitung des französischen Nuklearprogramms diskutieren sollten", fordert der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen. Die Chefin von ICAN-Deutschland, Xanthe Hall, weist dagegen darauf hin, dass Atomwaffen zwar kurzfristig nach mehr Sicherheit klingen, aber langfristig die Gefahr eines Atomkrieges steigerten. "Diese Idee, der ultimative Lebensversicherung durch Atomwaffen finde ich extrem gefährlich, weil das bedeuten würde: Wir sind bereit, dann das Leben von Millionen Menschen aufs Spiel zu setzen", so Hall.
Eines scheint klar: Das Ziel einer atomwaffenfreien Welt ist so weit weg wie lange nicht mehr.