Sicherheitsexpertin Major: "NATO-Atomwaffen sind die ultimative Lebensversicherung"
Claudia Major ist Forschungsgruppenleiterin für Sicherheitspolitik in der Stiftung Wissenschaft und Politik. Sie sagt, die Bedeutung der nuklearen Abschreckung habe wieder zugenommen.
Frau Major, der Begriff "Zeitenwende" wird ja in diesen Wochen oft verwendet. Inwieweit gilt er auch für die Frage der nuklearen Sicherheit?
Seit Beginn des Ukraine-Krieges sind Verteidigungsfragen, Schutzfragen wieder deutlich relevanter geworden in Europa. Und damit stellt sich nicht nur die Frage der konventionellen Reaktion der NATO, sondern auch, inwieweit die NATO-Nuklearpolitik möglicherweise angepasst werden müsste. Russland hat noch einmal mehr nach Georgien 2008 und der Ukraine 2014 gezeigt, dass es bereit ist, Krieg zu führen, um seine Interessen durchzusetzen, und das mit nuklearen Drohungen zu untermauern. Die Bedeutung der nuklearen Abschreckung hat weltweit wieder zugenommen.
Was genau bedeutet "nukleare Abschreckung"?
Nukleare Abschreckung ist eine Kriegsverhinderungsstrategie. Atomwaffen sind als Kriegsverhinderungswaffen gedacht, nicht als Kriegsführungswaffen. Es sind politische Waffen. Sie sollen das Gegenüber von einem Angriff abhalten, indem sie dafür so hohe Kosten androhen, dass völlig klar wird, dass sich ein Angriff nicht lohnt: die Kosten würden den Gewinn bei weitem übersteigen. Mit Blick auf Nuklearmächte spricht man auch von einem Gleichgewicht des Schreckens: eine Nuklearmacht (z.B. Russland) hält die andere Nuklearmacht (z.B. USA) vom Ersteinsatz von Nuklearwaffen dadurch ab, weil der Angegriffene selbst nach einem nuklearen Erstschlag noch vernichtend zurückschlagen könnte. Im Kalten Krieg hat das unter dem Strich funktioniert.
Inwiefern funktioniert diese Strategie aktuell?
Im aktuellen Krieg gegen die Ukraine sehen wir, dass Abschreckung in zwei Varianten funktioniert. Man kann sagen, die nukleare Abschreckung führt dazu, dass Russland unter seinem nuklearen Schirm einen konventionellen Krieg gegen die Ukraine führen kann und andere Staaten, wie die NATO, nicht intervenieren. Sie gewährleistet aber auch, dass dieser Konflikt bislang nicht auf das NATO-Territorium übergeschwappt ist und Russland eine Eskalation mit der NATO als nukleare Allianz bislang vermieden hat. Das heißt, die nukleare Abschreckung funktioniert in beide Richtungen. Aus Sicht der NATO-Staaten ist die NATO mit den amerikanischen sowie auch den britischen und französischen Nuklearwaffen die ultimative Lebensversicherung, die ihnen auch jetzt das Gefühl gibt, dass sie geschützt sind.
In der Eifel liegen Schätzungen zufolge 20 amerikanische Atombomben. Im Ernstfall sollen deutsche Kampfjets diese Bomben ins Ziel tragen. Deutschlands Beitrag zur sogenannten "Nuklearen Teilhabe". Die deutsche Gesellschaft und auch Teile der Politik tun sich seit Jahren sehr schwer damit. Warum?
Atomwaffen sind eine enorme ethische Herausforderung. Man droht im Rahmen der Abschreckung mit der totalen Vernichtung. Ethisch ist dieser Einsatz von Atomwaffen eigentlich inakzeptabel, darauf hat auch der Papst verwiesen. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat dieses ethische Dilemma vor zwei Jahren so beschrieben: Eigentlich ist bereits der Besitz von Atomwaffen unethisch. Aber wenn wir einseitig Atomwaffen abgeben würden, um dieser moralischen Last zu entgegen, setzen wir uns dann nicht den Erpressungsversuchen der Staaten aus, die nicht bereit sind, diese abzugeben? Ist das der verantwortungsbewusstere Weg?
Also ist eine atomwaffenfreie Welt eine Utopie?
Das Ziel einer atomwaffenfreien Welt bleibt das übergeordnete Ziel, auf das wir immer hinarbeiten sollten: Eine kooperative Weltordnung, in der wir nicht nuklear abschrecken müssen, weil Konflikte nicht militärisch gelöst werden. Die Frage ist: Wie kommen wir dahin? In diesem Krieg sehen wir, dass Atomwaffen das Überleben eines Staates schützen und dass sie ihm weitgehend Handlungsfreiheit gewähren. Russland kann dank seiner Nuklearwaffen einen konventionellen Krieg gegen die Ukraine führen, und die westlichen Staaten intervenieren nur bedingt. Und die Ukraine hatte 1994 akzeptiert, dass sie die sowjetischen Atomwaffen, die auf ihrem Territorium verblieben sind, gegen Sicherheitsgarantien abgibt. Welcher Staat würde angesichts dieser Geschichte jetzt in große Abrüstungs- und Rüstungskontroll-Bemühungen einwilligen, wenn sich doch so ganz klar gezeigt hat, dass Atomwaffen anscheinend ultimativen Schutz bieten? Und dann gibt es die Sorge, dass Russland nach diesem Krieg konventionell schwer angeschlagen ist und sich möglicherweise noch mehr auf die Atomstreitkräfte konzentrieren wird. Das heißt, nach diesem Krieg sind die Bedingungen wahrscheinlich noch viel schlechter. Wir sind in unseren Bemühungen um Abrüstung und Rüstungskontrolle leider meilenweit zurückgeworfen worden.
Man hat den Eindruck, dass die Politik in Deutschland das Thema nukleare Sicherheit seit langem lieber ignoriert als offensiv diskutiert. Warum?
Ein Thema, bei dem man sich mit Abschreckung und Vernichtung beschäftigen muss, das lässt sich schwer öffentlich erklären. Es scheint einfacher, sich für Abrüstung auszusprechen, als die enorm schwierige und auch gefährliche Logik von Abschreckung zu vermitteln. Wir haben uns in Deutschland seit dem Ende des Kalten Krieges generell relativ wenig mit Sicherheits- und Verteidigungspolitik auseinandergesetzt, aus der Überzeugung, dass wir in einer friedlicheren Welt leben. Man kann auch anders sagen: Wir haben von der Friedensdividende profitiert. Aber die dunkle Seite der Friedensdividende ist, dass diese Themen zu wenig politische Aufmerksamkeit erhalten haben.
Im Moment ist Deutschland auf den nuklearen Schutz der NATO, der USA angewiesen. Was würde es bedeuten, wenn Trump wieder Präsident werden würde?
Vieles deutet in der US-amerikanischen Politik darauf hin, dass ein Präsident Trump oder ein Präsident wie Trump durchaus wieder vorstellbar ist. Europa wird zwar noch als wichtig angesehen, aber hat nicht mehr die Priorität wie bislang. Das heißt, wir Europäer müssen uns die Frage stellen: Wie können wir das, was wir uns politisch aufgebaut haben, in Zukunft besser allein verteidigen? Nicht, weil wir das wollen, aber weil der Partner uns möglicherweise nicht mehr so unter die Arme greift.
Gehört dazu auch ein eigener europäischer nuklearer Schutzschirm, möglicherweise jenseits der NATO?
Jede Veränderung in der Abschreckungsstruktur, wie wir sie jetzt haben, birgt das Risiko von Instabilität. Wenn wir über eine europäische Version nachdenken, wird sie immer kleiner sein und auch einen geringeren Schutz bieten als eine transatlantische Version. Die USA sind als politische, konventionelle und nukleare Führungsmacht in der NATO nicht zu ersetzen. Wir müssen diese Debatte aber führen, weil wir immer über Worst-Case-Szenarien sprechen müssen. Allerdings auf eine Art und Weise, dass wir den USA nicht den Eindruck vermitteln, sie könnten eigentlich gehen. Das wäre unverantwortlich.