Russland: Die Eltern der Soldaten
Menschenrechtsorganisationen berichten von russischen Soldaten, die vom Krieg überrumpelt wurden. Was denken die Eltern?
Ruschan Rachmankulow lebt rund 60 Kilometer von Moskau entfernt in der Stadt Naro-Fominsk. Vor rund zwei Wochen erfährt er über das Internet, dass sein Sohn Rafik in ukrainischer Gefangenschaft ist: "Ich habe von meiner Nichte ein Video mit Fotos zugeschickt bekommen. Erst dachte ich, es sei eine Fälschung." So schildert es Rachmankulow in einem Beitrag des - inzwischen geschlossenen - russischen TV-Senders "Doschd".
Doch dann bekommt er weitere Aufnahmen zu sehen. Ein Video zeigt seinen Sohn Rafik, wie er in die Kamera spricht. Seine Hände sind hinter dem Rücken gefesselt. Die Augen mit Paketklebeband zugeklebt. Der 19-Jährige muss seinen Namen, sein Geburtsjahr und seine Heimatstadt nennen. Erklären, wo er gedient hat und was er in der Ukraine macht.
Zu finden ist das Video unter anderem auf dem YouTube-Kanal "Ishi svoich" ("Suche die Deinen"). Betreiber des Kanals soll das ukrainische Innenministerium sein. Neben dem Clip von Rafik gibt es hier zahlreiche weitere Aufnahmen russischer Soldaten. Die Authentizität des gezeigten Materials zu überprüfen, ist kaum möglich. Man weiß nicht, unter welchen Bedingungen es aufgezeichnet wurde. Viele der meist sehr jungen Männer sagen, sie wollten keinen Krieg. Sie sagen: Wir wussten von nichts.
Soldaten-Vater: Sohn dachte, es sei eine Übung
Ruschan Rachmankulow erzählt, dass sein Sohn erst kurz vor Kriegsbeginn erfahren habe, dass sich dessen Einheit in Richtung der russisch-ukrainischen Grenze bewege. Ab da hätten sie so oft wie möglich telefoniert. Rafik habe ihm gesagt, dass es sich um eine Übung handele und dass sie am 25. Februar nach Moskau zurückkehren würden.
Von der Moskauer Menschenrechtsorganisation "Komitee der Soldatenmütter" erfahren wir: so wie Rafik Rachmanuklow erging es vielen Soldaten. Die Organisation klärt Soldaten und deren Angehörige über ihre Rechte auf. Bislang prangerten die "Soldatenmütter" unerschrocken Missstände in der russischen Armee an und ließen sich auch von Repressionen nicht einschüchtern. Doch seit in Russland ein neues Mediengesetz verabschiedet wurde, halten auch sie sich mit öffentlichen Äußerungen zurück. Wir bekommen schriftliche Statements, die wir nur ohne Namen veröffentlichen dürfen.
"Es gibt viele Informationen darüber, dass man den Soldaten gesagt hat, es handle sich um Übungen. Zu Kampfhandlungen werde es nicht kommen. Später hieß es: Die Bevölkerung wird neutral sein, und die ukrainische Armee wird nicht kämpfen. Ihr müsst einfach nur wie zu Übungen nach Kiew fahren."
Wer kämpft für Russland in der Ukraine?
Das russische Verteidigungsministerium betont: Es sind erfahrene Berufssoldaten und höherrangige Militärbeamte, die im Ukrainekrieg kämpfen. Letzte Woche räumte es dann erstmals ein, dass auch Wehrpflichtige eingesetzt wurden. Dies sei aber ohne offiziellen Befehl geschehen und werde von der Staatsanwaltschaft verfolgt. Beim Moskauer "Komitee der Soldatenmütter" und anderen Menschenrechtsorganisationen mehren sich die Hinweise, dass vor dem Einmarsch in die Ukraine viele Wehrpflichtige dazu überredet oder gar gezwungen wurden, Zeitsoldaten zu werden.
"Theoretisch ist dieser Vertragsabschluss natürlich freiwillig", heißt es von den Soldatenmüttern. Die Kommandeure könnten Soldaten nicht zur Unterschrift zwingen. "Aber sie werden ihnen vorwerfen, nicht patriotisch genug zu sein." Den Soldatenmüttern würden auch Fälle vorliegen, wo Soldaten betrogen worden seien. Mitunter hätten die Kommandeure die Verträge der Soldaten gefälscht und einfach selbst unterschrieben.
"Ich konnte ein Zittern in seiner Stimme hören"
Ruschan Rachmankulow erzählt, dass sein 19-jähriger Sohn erst seit Kurzem Zeitsoldat gewesen sei. Zuletzt hätten sie am 23. Februar telefoniert, am Tag vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. "Ich glaube, es war sehr unerwartet", sagt Rachmankulow. "Ich konnte ein Zittern in seiner Stimme hören. Ich glaube, er hatte Angst."
Per Telefon erreichen wir Nadeschda*. Von einer Menschenrechtsorganisation wissen wir, dass es ihr gelungen ist, ihren Schwiegersohn vor dem Einsatz in der Ukraine zu bewahren. Die Mittsechzigerin lebt in einer mittelgroßen Stadt im Osten Russlands und engagiert sich vor Ort in einer Organisation, die Soldaten berät. Ihre Verbindungen zum örtlichen Militär scheinen eng zu sein. Früher, sagt sie, habe sie selbst für die Armee gearbeitet.
Doch auch sie wurde vom Krieg überrascht. "Niemand hat etwas gewusst", sagt Nadeschda. Von einem Krieg will sie aber nicht sprechen. Stattdessen benutzt sie die von Putin ausgegebene Sprachregelung "militärische Spezialoperation".
Schwiegermutter eines Soldaten übernimmt Putins Narrativ
Als wir sie fragen, warum sie ihren Schwiegersohn von dieser "Spezialoperation" ferngehalten hat und wie ihr das gelungen sei, antwortet sie nur kryptisch: "Es gab keinen Befehl irgendwo hinzufahren und deswegen gab es auch keinen rechtlichen Rahmen für seinen Einsatz. Das ist die Situation, die sich für uns ergeben hat."
Weitere Nachfragen blockt sie ab. Stattdessen möchte sie darüber sprechen, warum der russische Angriff auf die Ukraine gerechtfertigt sei. Dabei bedient sie sich des Putinschen Narrativs von den ukrainischen Neonazis, die in der Ostukraine die russische Minderheit terrorisierten. "Seit 2014 bitten wir die Welt, uns zuzuhören", sagt Nadeschda. "In den Volksrepubliken Donzek und Luhansk schießen sie auf Zivilisten. Nicht auf die Armee, sondern auf normale Zivilisten."
Der Vater von Rafik Rachmankulow versteht dagegen nicht, wozu der Krieg gut sein soll. "Ich möchte nicht, dass mein Sohn als Kanonenfutter herhalten muss. Aber genauso ist es. Ich denke, alle Eltern in meiner Lage würden das verstehen." Er werde alles tun, sagt er noch, um seinen Sohn aus der Gefangenschaft zu holen.
*Name von der Redaktion geändert