Sicherheitsexpertin Berghofer: "Ziel einer atomwaffenfreien Welt nicht vollkommen hinfällig"
Julia Berghofer ist Sicherheitsexpertin beim European Leadership Network. Ihrer Meinung nach wird aktuell nüchtern und nicht mehr ideologisch über das Thema Atomwaffen diskutiert.
Frau Berghofer, es häufen sich die Stimmen, die fordern: Wir müssen uns Gedanken machen über einen eigenen nuklearen Schutzschirm in Europa, vor dem Hintergrund der russischen Aggression, aber auch aus Sorge, dass die USA unter einem anderen Präsidenten möglicherweise wieder die Sicherheitsgarantien in Frage stellen, so wie es Trump getan hat. Wie betrachten Sie diese Forderungen?
Es spricht nichts dagegen, dass man sich gedanklich darauf vorbereitet, dass man Szenarien durchgespielt. Es ist nur die Frage: Wie weit geht man? Im Moment sehen wir eine große Einigkeit in der NATO, in ihrer Handlungsfähigkeit, in ihrer Geschlossenheit. Und ich glaube, es ist sehr wichtig, dass man diese Einigkeit nicht in Frage stellt, dass man nicht einen Diskurs anheizt, der dazu führt, dass diese Einigkeit in der NATO wieder bröckelt. Das Beste, was jetzt passieren kann, ist, dass die USA erkennen: Die NATO steht solide da, steht einig da und man profitiert davon, weil man offensichtlich im NATO-Verbund Russland in Schach halten kann. Meine vielleicht etwas naive Hoffnung ist, dass diese Krise auch dazu führt, dass die Amerikaner dauerhaft den Wert der NATO sehen.
2020 hat der französische Staatspräsident Emmanuel Macron ja schon einmal versucht, die Debatte über eine gemeinsame europäische Abschreckung anzustoßen. Welche Bedeutung hat dieser Vorstoß?
Die Reden von Macron an der École de guerre in Paris sowie auf der Münchner Sicherheitskonferenz muss man im historischen Kontext sehen, um zu verstehen, dass das nicht aus heiterem Himmel kam. Schon seine Vorgänger Mitterrand, Chirac, Sarkozy oder Hollande haben bereits Reden gehalten, in denen eine europäische Dimension für die Force de frappe die französischen Atomstreitkräfte, angeklungen ist. Alle haben auch immer wieder ein Dialogangebot gemacht, in unterschiedlicher Form. Auch Macron hat eine europäische Dimension für die Nuklearwaffen eingeräumt, aber es war auch klar, das weitherhin gilt, was schon Hollande sagte: Our deterrence belongs to us, unsere Abschreckung gehört uns. Wir entscheiden über die Waffen, sie sind nicht teilbar.
Wie sieht denn dann das Angebot aus? Worüber wollte er reden?
Das wissen wir nicht genau, weil die Deutschen nicht wirklich darauf reagiert haben. Es gab nie den Punkt, wo man gesagt hat, jetzt fangen wir mal diesen strategischen Dialog an. Es war eher Schweigen. Man hat sich offenbar gefragt: Wir wissen ja gar nicht, was die Franzosen wollen. Wollen die vielleicht nur, dass wir ihre Force de frappe bezahlen? Was bringt uns das überhaupt? Problem: Diese Fragen können Sie halt nur klären, wenn Sie in diesen Dialog einsteigen.
Das ist bis heute nicht geschehen?
Das ist bis heute nicht geschehen. Ich glaube, man wollte man auch die NATO-Partner nicht vor den Kopf stoßen. Der Grund, warum die Franzosen Atomwaffen haben, liegt ja salopp gesagt darin, dass sie den amerikanischen Sicherheitsgarantien nicht vertraut haben. Es gibt einen berühmten Ausspruch des ehemaligen US-Außenministers Henry Kissinger mit dem Tenor: Wir würden die Sicherheit der Hausfrau in Kansas nicht für die Hausfrau in Hamburg riskieren. Das haben die Franzosen damals sehr ernst genommen. Insofern war bei den Deutschen möglicherweise die Befürchtung da, dass man als sehr antiamerikanisch wahrgenommen werden könnte, wenn man auf das Gesprächsangebot eingeht. Man will die Amerikaner ja nicht vor den Kopf stoßen, gerade in dieser Situation, in der die NATO so einig wie lange nicht ist
Inwieweit war es ein Fehler der Deutschen, trotz der vielen Fragezeichen so gar nicht zu reagieren?
Es ist relativ klar, dass es keine nukleare Teilhabe geben wird. Es ist auch klar, dass Deutschland keine Kontrolle über französische Atomwaffen haben wird oder in der Kommandostruktur mitmischen darf. Dennoch sollte man reden: Man kann ja den Dialog irgendwann beenden und sagen: Unsere Ansichten gehen hier zu weit auseinander. Aber zu diesem Punkt können Sie ja nie gelangen, wenn Sie nicht anfangen, sich mit den Franzosen auszutauschen. Was sicherlich auf französischer Seite auch für ein bisschen Frustration gesorgt hat. Und es macht aus meiner Sicht Sinn, dass man Die Frage ist, inwieweit die amerikanische Seite natürlich auch bereit und glücklich darüber wäre, wenn so ein Dialog stattfindet. Aber wie gesagt, solange Sie diesen Dialog nicht haben, solange Sie sich nicht Stück für Stück da herantrauen, können Sie all diese Fragen nicht beantworten.
Im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien ist unter anderem das Ziel formuliert: Deutschland frei von Atomwaffen. Wie klingt das für Sie, gerade vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs?
Das Ziel an sich wird niemals obsolet sein. Und interessanterweise ist das ja auch ein Ziel, dass die NATO selber in ihre Dokumente hineinschreibt. Seit 2010 ist die gängige Formulierung der Verbündeten: Solange Atomwaffen existieren, wird die NATO eine nukleare Allianz bleiben. Und gleichzeitig ist es erklärtes Ziel der NATO, die Bedingungen für eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen. Im deutschen Weißbuch von 2016 wurde diese Formulierung sinngemäß wiederholt und bekräftigt, dass Deutschland innerhalb der Allianz über die nukleare Teilhabe seinen Beitrag leistet und sich ebenso zum Ziel einer atomwaffenfreien Welt bekennt. Dieses Ziel ist auch heute nicht unsinnig oder obsolet.
Für Abrüstung und Rüstungskontrolle ist jetzt natürlich die denkbar schlechteste Zeit…
Das ist richtig. Aber dazu muss man sagen, im Kalten Krieg hatten wir auch jahrzehntelang schlimmste Konfrontationen und ein massives Aufrüsten. Und trotzdem sind die Sowjetunion und die USA irgendwann an den Punkt gelangt, wo man wieder strategische Gespräche führen konnte, wo man Rüstungskontrollverträge, vertrauensbildende Maßnahmen verabschiedet hat. Für die nächsten Monate, vielleicht auch die nächsten Jahre sind die Aussichten dafür schlecht. Und trotzdem muss man an dem Ziel festhalten. Also die aktuelle Situation sollte uns nicht dazu bringen, dass wir sagen, dieses Ziel einer atomwaffenfreien Welt ist vollkommen hinfällig geworden.
Wie nehmen Sie die Debatte um Atomwaffen, um nukleare Teilhabe in Deutschland wahr? Was hat sich durch den Ukraine-Krieg verändert?
Man spricht offener darüber, viel nüchterner. Davor war das Thema immer sehr ideologisch aufgeladen. Sie hatten auf der einen Seite das Lager der Atomwaffen-Gegner, die die Waffen als unmoralisch, unethisch sehen. Und auf der anderen Seite das Lager, das gesagt hat: Naja, wir sind Teil der NATO, wir haben uns zur nuklearen Teilhabe bekannt, da muss man strategisch denken. Also ich hoffe einfach, dass jetzt der Ukrainekonflikt dazu führt, dass die Debatte dauerhaft strategisch geführt wird und weniger emotional und ideologisiert. Generell glaube ich, dass es auch sehr schmerzhaft ist für die deutsche Öffentlichkeit, aber auch für die Politik, dass das Thema jetzt so konkret wird. Das ist nichts mehr, was man abstrakt auf den Kalten Krieg bezieht oder das in großer Distanz stattfindet, was vielleicht für Indien und Pakistan ein konkretes Problem ist. Sondern es ist eine Bedrohung, die vor unserer Haustür existiert. Und ich glaube, es ist sehr unangenehm, sich mit Nuklearstrategien, mit Abschreckung auseinanderzusetzen. Und mit der Tatsache, dass es keine Garantien gibt, dass Abschreckung am auch Ende schiefgehen kann.
Viele Menschen scheinen aber auch gerade zu erkennen, dass Atomwaffen natürlich einerseits gefährlich sind, andererseits aber auch ein stabilisierender Faktor sein können…
Da begibt man sich natürlich auf dünnes Eis, wenn man sagt, Atomwaffen haben an sich eine stabilisierende Rolle. Wir haben jetzt einen Fall, und der Krieg dauert erst drei Monate, in dem Abschreckung offensichtlich funktioniert, dadurch, dass der Krieg auf die Ukraine beschränkt bleibt. Daraus abzuleiten, dass Atomwaffen generell stabilisierend wirken, wäre verheerend. Wir leben in einer Welt, in der es wahnsinnig viele Atomwaffen gibt, in der Abrüstung gerade auf dem absteigenden Ast ist und Rüstungskontrolle auch kaum mehr stattfindet. Und in der wir trotzdem mit dieser Komplexität umgehen müssen. Wir dürfen nie vergessen: Insgesamt machen Atomwaffen unser Leben wesentlich gefährlicher.