Afghanistan: Besuch bei den Taliban
Vom erbitterten Gegner der Taliban wurde Mariam Nooris Großvater zum Unterstützer. Warum hat er seine Meinung geändert? Zusammen mit dem Kollegen Armin Ghassim reist sie nach Afghanistan, um ihn zu verstehen.
"Die Taliban machen gute Arbeit. Komm uns doch mal besuchen, es ist jetzt sicher hier." Als ich letztes Jahr am Telefon mit meinem Großvater in Afghanistan sprach, war ich irritiert. Es war kurz nach dem Truppenabzug der westlichen Besatzer. Kabul war in die Hände der Taliban gefallen, die ganze Weltschaute nach Afghanistan, und alle fragten sich: Wie kann das sein? Warum überrennen die Taliban in so kurzer Zeit einen Staat, den die NATO in 20 Jahren mit viel Einsatz und Geld angeblich aufgebaut und von den Taliban befreit hatte? Wieso wollen Menschen zurück ins gefühlte Mittelalter?
Die Worte meines Großvaters waren das Gegenteil von allem, was ich in der Berichterstattung gesehen hatte. Er sprach von Frieden und Sicherheit. Davon, dass die Taliban die Korruption beendet hätten. All das, obwohl meine Familie immer erbitterte Gegner der Taliban gewesen waren. Mein Opa war in den 90er Jahren sogar selbst vor den Taliban nach Pakistan geflohen und erst nach ihrer Vertreibung zurückgekehrt. Warum hat mein Opa seine Meinung geändert? Was ist schief gelaufen in Afghanistan? Es schien noch eine andere Seite der Wahrheit zu geben, von der man in Deutschland wenig hörte. Ich entschloß hinzufahren, zusammen mit meinem Kollegen Armin Ghassim.
Nach 30 Jahren: Meine Rückkehr nach Afghanistan
Die Ausfahrt des Flughafengeländes in Kabul führt in einen großen Kreisverkehr. Wir nehmen die erste Abbiegung, gleich vorbei an der ehemaligen amerikanischen Botschaft. "Mit Gottes Kraft hat das afghanische Volk die USA besiegt", lautet nun der Schriftzug an der Mauer. Daneben die Karikatur einer US-Flagge, aufgemalt als Reihe umkippender Dominosteine. Das Botschaftsgebäude steht nun leer.
"Die Amerikaner haben Schlechtes nach Afghanistan gebracht", sagt mein Großvater beiläufig und nippt an seinem Tee, "Hunderttausende wurden getötet." "Aber die Taliban haben doch auch getötet", wende ich ein, "kann man ihnen das einfach verzeihen?" Mein Opa ist ein liebenswürdiger Mann, fromm und konservativ, aber nicht extrem. Er legt Wert auf Bildung, für Söhne und Töchter, für die Enkelkinder. In unserer Familie in Afghanistan haben alle Frauen studiert. Seine Frau war selbst Lehrerin. Mein Opa ist 86 Jahre alt, er lächelt viel, er ist wortgewandt.
Es gibt keine einfachen Wahrheiten, gerade in Afghanistan. Einem Land, das Jahrhunderte von Patriarchen, Warlords und nun den Taliban regiert wird. Immer waren es Männer. Viele demokratische Entwicklungen wurden immer wieder zunichte gemacht, durch 40 Jahre Krieg - und die Taliban. Immer waren es fremde Mächte, die in dieses schwer zu regierende Land eindrangen, es unterwerfen wollten und dem Freiheitswillen und der Kampfbereitschaft der Afghanen unterlagen. Erst die Briten, dann die Sowjets, und nun die Amerikaner. Jetzt sind die Taliban erneut als Sieger hervorgegangen.
Terroristen als Polizei
Was mein Opa mit "Sicherheit" meint, kann man an den vielen Checkpoints in den Städten sehen. Eine Fahrt von wenigen Kilometern führt durch mehrere solcher Checkpoints. Ein Taliban wirft einen strengen Blick ins Auto, fragt wie es geht. Wenn man einen schlauen Fahrer hat, begrüßt er sie durch das Fenster als "Mujahid", also "Freiheitskämpfer". Das mögen sie. Nach einem halbherzigen Blick in den Kofferraum wird man weiter gewunken und bekommt eine Ahnung, wie es zuletzt trotz der vielen Checkpoints zu mehreren Anschlägen durch den IS-Ableger IS-K (der sog. Islamische Staat Khorasan) kommen konnte.
Aber tatsächlich: Es ist viel friedlicher geworden. Der Hauptgrund: Die Taliban selbst verüben keine blutigen Anschläge mehr.
Das Ende der Korruption?
Eine 45-minütige Fahrt heraus aus Mazar-i-Sharif bringt uns zu einem riesigen Landstück. Es liegt brach, 93 Hektar, sagt mein Großvater. All das gehöre uns - jetzt wieder, dank der Taliban. Unter der alten Regierung war es ihm enteignet worden. Landkonflikte hatten in den letzten 20 Jahren massiv zugenommen. Die Nutznießer häufig: Gruppen, die der Regierung nahestanden und durch ominöse Geldquellen über genügend Bestechungsmittel verfügten, um Behörden zu schmieren. Die Milliarden-Hilfsgelder, die über Jahre ins Land flossen, landeten häufig in solchen Kanälen. Korruption war vom Anfang bis zum Ende das größte Problem der Präsidenten Karzai und Ashraf Ghani. Sie bekamen sie nicht in den Griff.
Freiheit oder Sicherheit
Doch trotz Korruption und Vetternwirtschaft: Für viele Menschen gab es große Fortschritte in den letzten 20 Jahren. Die Freiheit, auch als Frau alles studieren zu können. Die Freiheit, sich von keinem "Tugendministerium" vorschreiben zu lassen, wie das Leben zu gestalten ist. Die Freiheit der Rede und Presse. All das ist der Grund, warum wohl noch immer Hunderttausende bei der ersten Gelegenheit das Land verlassen würden. Die Wirtschaftskrise und wachsende Armut tun ihr Übriges.
"Wenn ihr jetzt nach Deutschland zurückgeht, was berichtet ihr über uns? Sagt ihr, dass wir gute oder schlechte Leute sind?", will ein Taliban von mir wissen. Ich frage ihn, ob er denn auch berücksichtige, dass Menschen gegen die Taliban seien. Dass es viele AfghanInnen gibt, die anderes denken. Er erklärt: "Die, die nicht glücklich mit uns sind, das sind Leute, die Freiheit wollen. Wir wollen keine Freiheit. Wir wollen das Scharia-Recht. Die wollen Demokratie, deshalb sind sie unglücklich."
"Ja, die Menschen haben sich sehr an die Freiheiten gewöhnt", sagt mein Großvater. Freiheiten, die er sein ganzes Leben schätzte. Aber jetzt sei erstmal die Sicherheit wichtig.