Triumph der Taliban: Sind die Afghanen selbst schuld?
Sind die Afghanen nicht bereit für die Demokratie? Oder müssen wir uns fragen, wie der "Krieg gegen den Terror" zum Erstarken der Taliban beigetragen hat? Ein Kommentar von Armin Ghassim.
"Wir wollten den Afghanen Demokratie und Freiheit bringen, aber die sind einfach zu zurückgeblieben dafür." So klingt im Kern die bisherige Analyse aus Politik und auch großen Teilen der Medien zum desaströsen Ende von 20 Jahren Kriegseinsatz in Afghanistan. Die Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel bläst im Kern ins gleiche Horn. "Hätten die großen kulturellen Unterschiede ernster genommen werden sollen? Kamen unsere Werte wirklich bei breiten Teilen der Bevölkerung an?" Grund unseres Scheiterns sei eigentlich die Zurückgebliebenheit der anderen, und unser zentraler Fehler war also, diesen Menschen ernsthaft den Aufbau einer Demokratie zuzutrauen. Eine selbstwertdienliche, um nicht zu sagen selbstgefällige Erklärung.
Keine Analyse für das Erstarken der Taliban und ihre Rückkehr an die Macht kann einfach sein und gleichzeitig stimmen. Immerhin: auch Pakistans Rolle wird nun wiederholt hervorgehoben, ebenso die Katars - zu Recht. Doch wir müssen uns darüber hinaus fragen, ob die Mittel, die im "Krieg gegen den Terror" angewendet wurden, die richtigen waren, oder ob sie nicht sogar zum Gegenteil geführt haben.
Systematische Kriegsverbrechen
Von diesen Mitteln ist gerade erstaunlich wenig die Rede, wenn es um die Frage geht, warum die Taliban in den letzten 20 Jahren offenbar neuen Zulauf bekommen haben. Dabei wurden diese zweifelhaften Mittel immer wieder recherchiert und belegt: Foltergefängnisse wie in Bagram, Massaker an ganzen Hochzeitsgesellschaften, weil einzelne Zielpersonen darunter waren, Entführungen und nächtliche Tötungskommandos, die nicht selten die Falschen trafen.
All das beschäftigt übrigens auch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der wegen Afghanistan zum ersten Mal direkt gegen die USA ermittelt und ausreichend Belege für systematische Kriegsverbrechen sieht. Doch statt bei der Aufarbeitung zu helfen, scheinen sich die Beteiligten eher gegenseitig zu decken: Der renommierte Militärforscher Sönke Neitzel hat für sein Buch "Deutsche Krieger" mit deutschen Afghanistan-Veteranen gesprochen, die anonym berichten: "Wenn bei Operationen der amerikanischen Spezialkräfte Zivilisten auch mal im dreistelligen Bereich umkamen, nahm man das hin. Mancher wunderte sich gewiss, dass darüber nicht gesprochen wurde. Doch keiner wollte sich mit den Amerikanern anlegen, von denen die Deutschen in vielerlei Hinsicht abhängig waren."
Afghanistan hat als unmittelbare Konsequenz der Anschläge vom 11. September 2001 alle Wut abbekommen. Es wurden neue Tötungsmechanismen ausprobiert, direkt zu Beginn des Krieges wurden etwa erstmals Drohnen bewaffnet, um per Knopfdruck zu töten. Barack Obama weitete diese bequeme, weil für eigene Soldaten ungefährliche Praxis noch aus, führte dann 2013 aber auch Beschränkungen ein. Kürzlich sagte er in einem Interview, das Töten sei einfach zu leicht geworden: "Das Problem ist, dass es Dir die Illusion gibt, es sei gar kein Krieg. Die Maschinerie begann, zu einfach zu werden." 2014 wurde eine interne Untersuchung geleakt, die zu dem Ergebnis kam, dass 90% der Getöteten bei Drohnenangriffen nicht die eigentlichen Zielpersonen waren, sondern sogenannte "Bystander". Es waren also Menschen, die gerade daneben standen, die aber wegen ihrer Nähe zum Ziel nicht als Zivilisten gezählt wurden.
Studien zeigen Kontraproduktivität des "War on Terror"
Die Beispiele für Gewaltexzesse sind unerschöpflich, auch in anderen NATO-Einheiten. Bei einer australischen Eliteeinheit galt es als Aufnahmeritual, einen gefangenen Taliban zu erschießen- auch das ein Kriegsverbrechen. Von derselben Einheit kursieren Fotos, wie sie aus den Bein-Prothesen der exekutierten Gefangenen Bier trinken. Angesprochen auf dieses Fehlverhalten sagte ein australischer Soldat laut "Guardian": "Was immer wir tun, ich kann Ihnen sagen, die Briten und die Amerikaner sind sehr viel schlimmer." Aufgearbeitet wird all das in den NATO-Staaten kaum. Stattdessen werden diejenigen verfolgt, die solche Verbrechen aufdeckten. Sie werden in amerikanische und britische Hochsicherheitsgefängnisse gesperrt.
Doch all das ist wohl auch ein Teil der Erklärung, warum die Taliban nach 20 Jahren Beschuss durch die stärkste Militärmaschinerie der Welt paradoxerweise stärker sind als zuvor: Sie bekamen immer mehr Zulauf, auch von Angehörigen und Opfern dieser Exzesse. Diesen Zusammenhang haben sowohl CIA-interne Untersuchungen als auch wissenschaftliche Untersuchungen immer wieder belegt. Der "Krieg gegen den Terror" hat seine Ziele selbst potenziert.
Natürlich eignet sich die Machtergreifung der Taliban perfekt, um das eigene Scheitern implizit mit der vermeintlichen Unzivilisiertheit der anderen zu erklären. Aber wer es wirklich wissen will, muss auch die eigenen Fehler aufarbeiten. Die vermeintliche Fehleinschätzung kultureller Defizite der anderen anzuführen ist nicht selbstkritisch, sondern selbstgefällig. Und das, was auch Bundeskanzlerin Merkel so selbstverständlich als "unsere Werte" definiert, für die Afghanistan angeblich nicht bereit sei, ist weder Erfindung noch Eigentum des Westens: Im Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York schmückt ein Schriftzug die Empfangshalle. Es sind Verse des persischen Dichters Saadi, also afghanische Allgemeinbildung. Sie lauten:
"Die Menschenkinder sind ja alle Brüder,
aus einem Stoff wie eines Leibes Glieder.
Hat Krankheit nur ein einzig Glied erfasst,
so bleibt den anderen weder Ruh noch Rast.
Wenn anderer Schmerz dich nicht im Herzen brennt,
verdienst du nicht, dass man noch Mensch dich nennt."
Menschliche Werte, nicht westliche. Aufgeschrieben 1259.