Seehofers 69 Afghanen: Keineswegs nur Kriminelle
Er sitzt in einem einfachen Hotel in Kabul und weiß nicht weiter. Allahyar ist 21 Jahre alt und hat bis zum 3. Juli in Deutschland gewohnt. Er ist einer von "Seehofers 69 Afghanen", die am Geburtstag des Bundesinnenministers abgeschoben wurden. "Im Flugzeug hab‘ ich nur geweint. Warum bin ich abgeschoben worden?", fragt Allahyar. "Manchmal dachte ich mir, vielleicht ist das ein Traum. Diese Abschiebung ist falsch."
50 der 69 abgeschobenen Afghanen keine Straftäter
Besondere Aufmerksamkeit hatte die Sammelabschiebung nicht nur durch Seehofers Bemerkung bekommen, sondern auch durch den Selbstmord eines der Abgeschobenen, eines 23-Jährigen Afghanen aus Hamburg mit mehreren Vorstrafen. Es entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck, es handele sich bei den Männern auf dem Abschiebeflug vor allem um Straftäter oder Gefährder.
Selbst der Innenexperte der CDU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Armin Schuster, hatte diesen Eindruck, als er am 14. Juli 2018 in einem Interview sagte: "Wir schieben nach Afghanistan immer noch nur Gefährder und Straftäter ab. (...) Deshalb sind 69 Abschiebungen nach Afghanistan nichts anderes als der erfolgreiche Vollzug unserer politischen Beschlüsse."
Eine Aussage, die er jetzt gegenüber Panorama als Fehler bezeichnete, sie habe nicht auf den aktuellsten Informationen basiert. Denn in der Tat sind nach Erkenntnissen von Panorama 50 der 69 abgeschobenen Afghanen keine Straftäter, Gefährder oder sogenannte "Identitätsverweigerer", sondern Unschuldige.
"Es hat absolut den Falschen getroffen"
Viele waren, so ergaben die Recherchen, bereits gut integriert, obwohl sie nur geduldet waren. Sie hatten bereits Jobs oder zumindest mehrere Praktika absolviert. Wie auch Allahyar. Beim Zimmereibetrieb "Das Bau-Team" im bayerischen Unterschleißheimkann man sich noch gut an ihn erinnern. Geschäftsführer Andreas Vollrath hätte ihm gerne einen Ausbildungsvertrag gegeben. "Er war dankbar, dass er da ist, engagiert, interessiert. So wie man sich das als Arbeitgeber von einem Arbeitnehmer erwartet. Also wirklich voll bei der Sache. Ohne Muh und Mäh hat er sein Ding durchgezogen und war lernbereit."
Auch Gisela Weber-Grunwald, die sich ehernamtlich für Flüchtlinge einsetzt, ist voll des Lobes über Allahyar. "Er war wirklich pünktlich, höflich, zurückhaltend, bescheiden. Es hat absolut den Falschen getroffen."
Integration scheint keine Rolle zu spielen
Der 24-jährige Nawid aus Unterelchingen hatte sogar schon seinen Hauptschulabschluss in der Tasche. Für den qualifizierenden weiteren Abschluss fehlte ihm nur noch eine einzige Prüfung, die er am Tag seiner Abschiebung hätte ablegen müssen. "Er hätte heute seine Abschlussfeier gehabt", erzählt seine Lehrerin Melek Yörük. "Ich habe so viel Kraft und Energie mit meinen Kollegen gemeinsam reingesetzt, und auf einmal ist er weg. Weg! Obwohl Nawid vielleicht ganz gut einen Beruf hätte ausüben können."
Alles umsonst?
Hinter den Geschichten von Nawid und Allahyar stecken auch Deutsche, die sich in den vergangenen Jahren gemeinsam mit ihnen angestrengt haben. Doch all das spielt offenbar keine Rolle mehr, auch nicht, ob ein Flüchtling aus Afghanistan gut integriert ist oder nicht. Denn seit Ende Mai werden nicht mehr nur Straftäter und Gefährder in das Land abgeschoben, wie Bundesinnenminister Horst Seehofer auf Nachfrage von Panorama bestätigte: "Das hat sich seit einigen Wochen geändert. Und wir sind in der Innenministerkonferenz der Bundesrepublik Deutschland so verblieben, dass jedes Bundesland je nach Koalition in seinem Kabinett entscheidet, wie es die Afghanistan-Frage handhabt. Wir als Bundesregierung halten eine generelle Abschiebung nach Afghanistan wieder für möglich."
In ein Land, das von politischen und religiösen Auseinandersetzungen noch immer zerrissen wird. "Gestern war hier auch eine Anschlag und vorgestern war auch sowas. Und das ist meine Frage, warum die deutschen Beamten oder die anderen das nicht wissen, dass es in Afghanistan unsicher ist", sagt Allahyar. Auch deutsche Behörden bestätigen die prekäre Lage.
Ein paar Tage darf er noch in dem Hotel in Kabul bleiben. Wohin er dann soll - er weiß es nicht.