Cum-Ex: Steuerräuber ohne Schuldgefühl

Stand: 21.10.2021 06:00 Uhr

Mindestens 150 Milliarden Euro Schaden in Europa und den USA durch unberechtigte Steuererstattungen - die Bundesregierung bekommt Betrugsmaschen mit Aktiengeschäften bis heute nicht in den Griff.

von Lutz Ackermann, Lea Busch, Manuel Daubenberger, Armin Ghassim und Oliver Schröm

Sanjay Shah gilt als einer der größten Steuerräuber weltweit. Mit Cum-Ex und ähnlichen Aktiendeals haben er und seine Firmen aus Sicht der Ermittler mehr als 1,2 Milliarden Euro erbeutet, rund 500 Millionen davon flossen nach eigener Ansage in seine Tasche.

VIDEO: Cum-Ex: Steuerräuber ohne Schuldgefühl (19 Min)

Sanjay Shah © NDR/ARD Foto: Screenshot
Gegen den britischen Investmentbanker Sanjay Shah laufen Ermittlungen in mehreren europäischen Ländern. Reue zeigt er nicht.

Seit Jahren lebt der Brite in Dubai, mit Frau, Kindern und Hunden auf 1.000 Quadratmetern in einer Villa auf den künstlich angelegten "Palmen-Inseln". Aber das Anwesen ist ein goldener Käfig. Verlässt Shah die Emirate, wird er festgenommen und ausgeliefert. Denn Staatsanwälte in Deutschland, Belgien, Dänemark und Luxemburg ermitteln gegen ihn. Ein internationaler Haftbefehl ist ausgestellt, ein Großteil seines Vermögens bereits eingefroren. Shah, 50 Jahre alt, schreckt das alles wenig. "Mein Plan ist es, bald wieder in das Geschäft einzusteigen", sagt er im Interview mit Panorama. "Ich weiß, wie es geht. Ich habe das Rezept."

150 Milliarden Euro Schaden - weltweit

Die Chancen für Shah stehen nicht schlecht. Der Raubzug durch die Steuerkassen geht fast ungehindert weiter - weltweit. Das haben gemeinsame Recherchen von 15 internationalen Medienpartnern ergeben, an denen in Deutschland CORRECTIV und Panorama beteiligt waren. Nach neuen Berechnungen eines Teams um den Steuerprofessor Christoph Spengel von der Universität Mannheim beläuft sich der weltweite Schaden durch Cum-Ex, Cum-Cum und ähnliche Geschäfte auf mindestens 150 Milliarden Euro. Dieses Geld ließen sich Banken und andere Finanzakteure "zurückerstatten", obwohl sie solche Steuern nie gezahlt hatten. Neben Deutschland und den USA wurden zwischen dem Jahr 2000 und 2020 mindestens zehn europäische Staaten Opfer dieses Steuerraubzugs.

Recherchen in 15 Ländern

Zur Recherche: Unter dem Namen "CumEx Files 2.0" haben sich unter Leitung des Recherchezentrums CORRECTIV 15 Medien aus 15 Ländern zusammengetan, um das ganze Ausmaß des Steuerraubs zu recherchieren. Dazu gehören neben Panorama auch die BBC aus Großbritannien, Le Monde aus Frankreich oder NBC aus den USA. Die Ergebnisse der Recherchen werden auf der Website www.cumex-files.com zusammengeführt. In den sozialen Medien laufen sie unter dem Hashtag #CumExFiles.

Bundesregierung unternimmt nichts

Weiteres Ergebnis der Panorama-Recherche: Die Bundesregierung scheint sogenannte "Cum-Cum-Geschäfte" bis heute nicht effektiv zu bekämpfen. Obwohl ihr die immensen Verluste, die der Steuerkasse dadurch entstehen, bekannt sind. Namhafte Steuerexperten und Finanzrichter sehen die Verantwortung für die milliardenschweren Steuerdiebstahl auch bei Finanzminister Olaf Scholz und seinem Vorgänger Wolfgang Schäuble, weil sie trotz Warnungen jahrelang keine Maßnahmen ergriffen haben, um dieses Geschäft endgültig zu unterbinden, wie es in anderen Ländern längst geschehen ist.

Christoph Spengel © NDR/ARD Foto: Screenshot
Der Mannheimer Steuerprofessor Christoph Spengel kritisiert das Vorgehen des Finanzministeriums.

Der Mannheimer Steuerprofessor Christoph Spengel warnt seit Jahren vor dem milliardenschweren Steuerraub durch Aktiengeschäfte wie Cum-Cum. "Die Information hat auch das Bundesfinanzministerium, und zwar zumindest von mir", sagt Spengel im Interview mit Panorama. Spengel ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Bundesfinanzministerium (BMF). Seine Korrespondenz mit der Leitungsebene des Finanzministeriums liegt Panorama vor. "Der Finanzminister dient unserem Land. Und wenn man Informationen hat, Erkenntnisse, dass die Steuern nicht so erhoben werden, wie es die Gesetze vorsehen oder dass sogar Steuern erstattet werden, die man gar nicht eingenommen hat, dann muss der Minister aktiv werden", sagt Spengel.

Die Finanzbehörden seien intensiv mit der Aufarbeitung von Cum-Cum-Gestaltungen befasst, schreibt das BMF in einer Stellungnahme gegenüber Panorama. Auch sei man "den Hinweisen von Professor Spengel bereits nachgegangen" und habe sie "an die zuständige Sondereinheit zur Bekämpfung kapitalmarktorientierter Steuergestaltungen beim Bundeszentralamt für Steuern weitergeleitet".

Schick: "Fast alle Banken an Cum-Cum beteiligt"

Gerhard Schick © NDR/ARD Foto: Screenshot
Gerhard Schick war bis 2018 Mitglied des Deutschen Bundestages. Seit Juli 2018 ist er Vorstand des Vereins Bürgerbewegung Finanzwende.

Bei Cum-Cum verschieben ausländische Anleger ihre Aktien vor der Dividendenausschüttung ins Inland, um unrechtmäßig Steuern zu sparen. "Wir müssen davon ausgehen, dass fast alle Banken in Deutschland Cum-Cum mitgemacht haben", sagt Gerhard Schick von der Nichtregierungsorganisation "Finanzwende". Schick untermauert dies mit einer Abfrage der Bafin aus dem Jahr 2017. Gegenüber der Bankenaufsicht räumten damals 85 Geldinstitute ein, in Cum-Cum-Gestaltungen involviert gewesen zu sein. Davon gaben 77 Institute an, finanzielle Belastungen zu erwarten, sollten die durch Cum-Cum-Geschäfte erzielten Gelder zurückgefordert werden.

Cum-Cum-Geschäfte laufen bis heute weiter

Nach den Erhebungen des Mannheimer Steuerprofessors Spengel betreiben Banken auch in Deutschland bis heute weiter Cum-Cum-Geschäfte. Ein wesentlicher Grund für die Fortführung dieses Steuerdiebstahls ist offenbar die irrige Annahme, dass Cum Cum - anders als Cum Ex - nicht illegal sei. Dem widerspricht Helmut Lotzgeselle. Unter seinem Vorsitz hat das Hessische Finanzgericht Anfang 2020 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Landesbank wegen ihrer Cum-Cum-Geschäfte verurteilt. Lotzgeselle sieht die illegalen Aktiengeschäfte aber nicht bloß unter dem steuerrechtlichen Aspekt. "Für mich sind Cum-Cum-Geschäfte nicht nur ein Gestaltungs-Missbrauch und eine Steuerumgehung, für mich als Jurist sind Cum-Cum-Geschäfte auch eine Straftat", sagt Lotzgeselle. "Ich kann nur hoffen, dass man diese Fälle alsbald aufgreift, um die Gelder - und hier geht es um Milliarden - zurückzufordern und diejenigen bestraft, die aufgrund ihrer Gier dem Steuerzahler diese Milliarden entzogen haben."

Weitere Informationen
Oliver Schröm lächelt in die Kamera. © NDR Foto: Jan Littelmann

Schröm: "Geld aus der Steuerkasse gegriffen, das einem nicht zusteht"

Panorama-Autor Oliver Schröm liefert im Gespräch mit der Tagesschau Details zu den Cum-Ex-Geschäften und den neuesten Recherchen. extern

Die Erhebung des Teams von Spengel hat ergeben, dass in Deutschland durch Cum-Ex, Cum-Cum und ähnliche Geschäfte in den Jahren 2000 bis 2020 mindestens ein Steuerschaden von 35,9 Milliarden Euro entstanden ist. Der größte Teil davon entstand durch Cum-Cum-Geschäfte.

Lotzgeselle: "Es geht um sehr viel Geld"

Helmut Lotzgeselle © NDR/ARD Foto: Screenshot
Helmut Lotzgeselle, Vorsitzender Richter am Hessischen Finanzgericht, befürchtet, die Politik wolle die Banken schützen.

"Da sind jetzt Milliarden, die ausstehen, und die Verjährung droht da jederzeit. Es ist schon so viel Zeit verflossen, dass man jetzt eigentlich kaum noch Möglichkeiten hat, alles Geld zurück zu holen. Es wird nur ein kleiner Teil sein, aber zumindest den sollte man jetzt versuchen zurückzuholen", sagt "Finanzwende"-Chef Gerhard Schick, einst Grünen-Bundestagabgeordneter und Initiator des Untersuchungsausschusses Cum-Ex. "Es besteht der Verdacht, dass die Politik die Banken insoweit schützen möchte, in dem sie die Fälle nicht aufgreift. Denn es geht um sehr viel Geld, und möglicherweise sind auch viele in der Sache mittelbar betroffen", sagt Finanzrichter Lotzgeselle zu.

Das BMF teilt auf Panorama-Anfrage mit, eine Abfrage bei den Obersten Finanzbehörden der Länder habe ergeben, dass 102 Cum-Cum-Fälle bearbeitet werden und die Landesfinanzverwaltungen davon ausgehen, rund 135 Millionen Euro zurückfordern zu können. Dabei handele es sich um ältere Fälle. Seit 2016 seien keine Cum-Cum-Fälle bekannt.

Weitere Informationen
Geld © vege - Fotolia

Milliarden aus der Staatskasse: Die Steuerräuber

Der Staat hat durch Tricks von Banken und Maklern mehr als 30 Milliarden Euro verloren. Recherchen von Panorama, ZEIT und ZEIT ONLINE belegen nun das Ausmaß des Skandals.   mehr

In Panorama kommt auch die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker ausführlich zu Wort. Unter ihrer Leitung ermittelt die Kölner Staatsanwaltschaft gegen mehr als 1.000 Beschuldigte - darunter Sanjay Shah. "Er ist sicherlich einer, der am meisten Risiko eingegangen ist. Er hat das schon sehr auffällig gemacht, und deswegen ist er auch relativ schnell aufgeflogen", sagt Brorhilker.

Shah selbst zeigt in seinem ersten Interview im deutschen Fernsehen weder Reue noch Verständnis: "Warum fragen Sie nicht Ihre Regierung, warum sie das Schlupfloch nicht geschlossen haben?", sagt der Brite mit indischen Wurzeln. "Meine Meinung ist: Ja, es ist eine Schande, aber macht mir keine Vorwürfe. Ich bin nicht der einzige, der dieses Geschäft betreibt. Und wenn es ein Problem gibt, sollte die Regierung es beheben."

 

Weitere Informationen
Sanjay Shah © NDR/ARD Foto: Screenshot
20 Min

Investmentbanker Shah: "Ja, es ist eine Schande, aber macht mir keine Vorwürfe"

Der mutmaßliche Steuerräuber Sanjay Shah erzählt, wie er den Milliardenbetrug beging - und wie man ihn beenden kann. 20 Min

Anne Brorhilker © NDR/ARD Foto: Screenshot
26 Min

Brorhilker: "War wahnsinnig schwer, diese Straftaten aufzuklären"

Die Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker nimmt ausführlich Stellung zum Stand der Ermittlungen in den Cum-Ex-Verfahren. 26 Min

Computertaste mit der Aufschrift CUM-EX. © picture alliance/chromorange Foto: Christian Ohde
30 Min

Cum-Ex: Der Bankier und der Bürgermeister

Die Opposition fordert Aufklärung: Es geht um Millionen, die Hamburg von der Warburg Bank hätte zurückfordern können. 30 Min

Manager-Figürchen auf Euroschein, Symbolbild Business, Geschäftsleute, Vertragsabschluss

Jahrhundertcoup: Angriff auf Europas Steuerzahler

"Größter Steuerraub der Geschichte Europas": Ein Insider spricht erstmals über den organisierten Griff in die Steuerkassen, auch als Cum-Cum- und Cum-Ex-Geschäfte bekannt. mehr

Verfremdete Skyline von Panama-Stadt.

Die Steuerräuber: LuxLeaks, Cum-Ex, PanamaPapers

Wenn es um richtig viel Geld geht, reicht die kriminelle Energie von dubiosen Deals bis hin zum Steuerraub. mehr

Computertaste mit der Aufschrift CUM-EX. © picture alliance/chromorange Foto: Christian Ohde

Cum-Ex: Griff in die Steuerkassen strafbar

Cum-Ex-Deals ermöglichten Steuerrückerstattungen, obwohl die Steuern zuvor gar nicht gezahlt worden waren. Über den organisierten Griff in die Steuerkassen berichtet Panorama seit Jahren. mehr

Die Schrift über dem Eingang der beschuldigten Warburg-Bank

Cum-Ex: Warburg-Bank hat 155 Millionen zurückgezahlt

Die Warburg-Bank hat nach eigenen Angaben die Steuerforderungen des Hamburger Finanzamts für Cum-Ex-Geschäfte beglichen. mehr

Der Schriftzug CUMEX ist zu sehen, im Hintergrund fallen Geldscheine zu Boden. © NDR

Triumph der Justiz

Cum-Ex ist illegal - das Urteil im Bonner Cum-Ex-Prozess setzt Maßstäbe. Und zeigt, wie die Justiz sogar in Corona-Zeiten komplexe Wirtschaftsstrafsachen bewältigen kann. mehr

Manager-Figürchen auf Euroschein, Symbolbild Business, Geschäftsleute, Vertragsabschluss

Bundesregierung überwacht Aktienhandel nicht auf verdächtige Geschäfte

Die Bundesregierung sagt, dass dem Staat aus steuergetriebenen Aktiengeschäften kein Schaden mehr entsteht. Doch die Finanzaufsicht prüft den Handel gar nicht systematisch mehr

Ein früherer Mitarbeiter der US-amerikanischen Investment-Bank Merrill Lynch, der anonym bleiben will © NDR Foto: Screenshot

Cum-Ex: US-Bank plünderte deutsche Staatskassen

Die US-Bank Merrill Lynch hat in großem Umfang die deutsche Steuerkasse geplündert. Erstmals schildert ein Ex-Mitarbeiter das System steuergetriebener Aktiengeschäfte. mehr

 

Weitere Informationen

Cum-Ex: Steuerräuber ohne Schuldgefühl

Der Panorama-Beitrag vom 21. Oktober 2021 als PDF-Dokument zum Download. Download (150 KB)

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 21.10.2021 | 21:45 Uhr

Über Panorama

Kalender © Fotolia.com Foto: Barmaliejus

Panorama-Geschichte

Als erstes politisches Fernsehmagazin ging Panorama am 4. Juni 1961 auf Sendung. Die Geschichte von Panorama ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. mehr

Anja Reschke © Thomas & Thomas Foto: Thomas Lueders

60 Jahre Panorama

60 Jahre investigativ - unbequem - unabhängig: Panorama ist das älteste Politik-Magazin im deutschen Fernsehen. mehr

Panorama 60 Jahre: Ein Mann steht hinter einer Kamera, dazu der Schriftzug "Panorama" © NDR/ARD Foto: Screenshot

Panorama History Channel

Beiträge nach Themen sortiert und von der Redaktion kuratiert: Der direkte Einstieg in 60 Jahre politische Geschichte. mehr