Cum-Ex: Steuerräuber ohne Schuldgefühl
Mindestens 150 Milliarden Euro Schaden in Europa und den USA durch unberechtigte Steuererstattungen - die Bundesregierung bekommt Betrugsmaschen mit Aktiengeschäften bis heute nicht in den Griff.
Sanjay Shah gilt als einer der größten Steuerräuber weltweit. Mit Cum-Ex und ähnlichen Aktiendeals haben er und seine Firmen aus Sicht der Ermittler mehr als 1,2 Milliarden Euro erbeutet, rund 500 Millionen davon flossen nach eigener Ansage in seine Tasche.
Seit Jahren lebt der Brite in Dubai, mit Frau, Kindern und Hunden auf 1.000 Quadratmetern in einer Villa auf den künstlich angelegten "Palmen-Inseln". Aber das Anwesen ist ein goldener Käfig. Verlässt Shah die Emirate, wird er festgenommen und ausgeliefert. Denn Staatsanwälte in Deutschland, Belgien, Dänemark und Luxemburg ermitteln gegen ihn. Ein internationaler Haftbefehl ist ausgestellt, ein Großteil seines Vermögens bereits eingefroren. Shah, 50 Jahre alt, schreckt das alles wenig. "Mein Plan ist es, bald wieder in das Geschäft einzusteigen", sagt er im Interview mit Panorama. "Ich weiß, wie es geht. Ich habe das Rezept."
150 Milliarden Euro Schaden - weltweit
Die Chancen für Shah stehen nicht schlecht. Der Raubzug durch die Steuerkassen geht fast ungehindert weiter - weltweit. Das haben gemeinsame Recherchen von 15 internationalen Medienpartnern ergeben, an denen in Deutschland CORRECTIV und Panorama beteiligt waren. Nach neuen Berechnungen eines Teams um den Steuerprofessor Christoph Spengel von der Universität Mannheim beläuft sich der weltweite Schaden durch Cum-Ex, Cum-Cum und ähnliche Geschäfte auf mindestens 150 Milliarden Euro. Dieses Geld ließen sich Banken und andere Finanzakteure "zurückerstatten", obwohl sie solche Steuern nie gezahlt hatten. Neben Deutschland und den USA wurden zwischen dem Jahr 2000 und 2020 mindestens zehn europäische Staaten Opfer dieses Steuerraubzugs.
Bundesregierung unternimmt nichts
Weiteres Ergebnis der Panorama-Recherche: Die Bundesregierung scheint sogenannte "Cum-Cum-Geschäfte" bis heute nicht effektiv zu bekämpfen. Obwohl ihr die immensen Verluste, die der Steuerkasse dadurch entstehen, bekannt sind. Namhafte Steuerexperten und Finanzrichter sehen die Verantwortung für die milliardenschweren Steuerdiebstahl auch bei Finanzminister Olaf Scholz und seinem Vorgänger Wolfgang Schäuble, weil sie trotz Warnungen jahrelang keine Maßnahmen ergriffen haben, um dieses Geschäft endgültig zu unterbinden, wie es in anderen Ländern längst geschehen ist.
Der Mannheimer Steuerprofessor Christoph Spengel warnt seit Jahren vor dem milliardenschweren Steuerraub durch Aktiengeschäfte wie Cum-Cum. "Die Information hat auch das Bundesfinanzministerium, und zwar zumindest von mir", sagt Spengel im Interview mit Panorama. Spengel ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirates des Bundesfinanzministerium (BMF). Seine Korrespondenz mit der Leitungsebene des Finanzministeriums liegt Panorama vor. "Der Finanzminister dient unserem Land. Und wenn man Informationen hat, Erkenntnisse, dass die Steuern nicht so erhoben werden, wie es die Gesetze vorsehen oder dass sogar Steuern erstattet werden, die man gar nicht eingenommen hat, dann muss der Minister aktiv werden", sagt Spengel.
Die Finanzbehörden seien intensiv mit der Aufarbeitung von Cum-Cum-Gestaltungen befasst, schreibt das BMF in einer Stellungnahme gegenüber Panorama. Auch sei man "den Hinweisen von Professor Spengel bereits nachgegangen" und habe sie "an die zuständige Sondereinheit zur Bekämpfung kapitalmarktorientierter Steuergestaltungen beim Bundeszentralamt für Steuern weitergeleitet".
Schick: "Fast alle Banken an Cum-Cum beteiligt"
Bei Cum-Cum verschieben ausländische Anleger ihre Aktien vor der Dividendenausschüttung ins Inland, um unrechtmäßig Steuern zu sparen. "Wir müssen davon ausgehen, dass fast alle Banken in Deutschland Cum-Cum mitgemacht haben", sagt Gerhard Schick von der Nichtregierungsorganisation "Finanzwende". Schick untermauert dies mit einer Abfrage der Bafin aus dem Jahr 2017. Gegenüber der Bankenaufsicht räumten damals 85 Geldinstitute ein, in Cum-Cum-Gestaltungen involviert gewesen zu sein. Davon gaben 77 Institute an, finanzielle Belastungen zu erwarten, sollten die durch Cum-Cum-Geschäfte erzielten Gelder zurückgefordert werden.
Cum-Cum-Geschäfte laufen bis heute weiter
Nach den Erhebungen des Mannheimer Steuerprofessors Spengel betreiben Banken auch in Deutschland bis heute weiter Cum-Cum-Geschäfte. Ein wesentlicher Grund für die Fortführung dieses Steuerdiebstahls ist offenbar die irrige Annahme, dass Cum Cum - anders als Cum Ex - nicht illegal sei. Dem widerspricht Helmut Lotzgeselle. Unter seinem Vorsitz hat das Hessische Finanzgericht Anfang 2020 erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik eine Landesbank wegen ihrer Cum-Cum-Geschäfte verurteilt. Lotzgeselle sieht die illegalen Aktiengeschäfte aber nicht bloß unter dem steuerrechtlichen Aspekt. "Für mich sind Cum-Cum-Geschäfte nicht nur ein Gestaltungs-Missbrauch und eine Steuerumgehung, für mich als Jurist sind Cum-Cum-Geschäfte auch eine Straftat", sagt Lotzgeselle. "Ich kann nur hoffen, dass man diese Fälle alsbald aufgreift, um die Gelder - und hier geht es um Milliarden - zurückzufordern und diejenigen bestraft, die aufgrund ihrer Gier dem Steuerzahler diese Milliarden entzogen haben."
Die Erhebung des Teams von Spengel hat ergeben, dass in Deutschland durch Cum-Ex, Cum-Cum und ähnliche Geschäfte in den Jahren 2000 bis 2020 mindestens ein Steuerschaden von 35,9 Milliarden Euro entstanden ist. Der größte Teil davon entstand durch Cum-Cum-Geschäfte.
Lotzgeselle: "Es geht um sehr viel Geld"
"Da sind jetzt Milliarden, die ausstehen, und die Verjährung droht da jederzeit. Es ist schon so viel Zeit verflossen, dass man jetzt eigentlich kaum noch Möglichkeiten hat, alles Geld zurück zu holen. Es wird nur ein kleiner Teil sein, aber zumindest den sollte man jetzt versuchen zurückzuholen", sagt "Finanzwende"-Chef Gerhard Schick, einst Grünen-Bundestagabgeordneter und Initiator des Untersuchungsausschusses Cum-Ex. "Es besteht der Verdacht, dass die Politik die Banken insoweit schützen möchte, in dem sie die Fälle nicht aufgreift. Denn es geht um sehr viel Geld, und möglicherweise sind auch viele in der Sache mittelbar betroffen", sagt Finanzrichter Lotzgeselle zu.
Das BMF teilt auf Panorama-Anfrage mit, eine Abfrage bei den Obersten Finanzbehörden der Länder habe ergeben, dass 102 Cum-Cum-Fälle bearbeitet werden und die Landesfinanzverwaltungen davon ausgehen, rund 135 Millionen Euro zurückfordern zu können. Dabei handele es sich um ältere Fälle. Seit 2016 seien keine Cum-Cum-Fälle bekannt.
In Panorama kommt auch die Kölner Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker ausführlich zu Wort. Unter ihrer Leitung ermittelt die Kölner Staatsanwaltschaft gegen mehr als 1.000 Beschuldigte - darunter Sanjay Shah. "Er ist sicherlich einer, der am meisten Risiko eingegangen ist. Er hat das schon sehr auffällig gemacht, und deswegen ist er auch relativ schnell aufgeflogen", sagt Brorhilker.
Shah selbst zeigt in seinem ersten Interview im deutschen Fernsehen weder Reue noch Verständnis: "Warum fragen Sie nicht Ihre Regierung, warum sie das Schlupfloch nicht geschlossen haben?", sagt der Brite mit indischen Wurzeln. "Meine Meinung ist: Ja, es ist eine Schande, aber macht mir keine Vorwürfe. Ich bin nicht der einzige, der dieses Geschäft betreibt. Und wenn es ein Problem gibt, sollte die Regierung es beheben."