Jahrhundertcoup: Angriff auf Europas Steuerzahler
Ganz oben, im 32. Stock eines Büroturms im Frankfurter Bankenviertel, hat man einen beeindruckenden Ausblick. Am Horizont ragt der Taunus an die Schleierwolken, und wenn man sich ganz dicht an die bodentiefen Fenster stellt und nach unten schaut, sind die Menschen auf den Straßen klein wie Ameisen. Es ist ein abgehobener Ort, dem normalen Leben ein Stück weit entrückt. Vielleicht wurde er auch deshalb zum Tatort im wohl größten Steuerskandal aller Zeiten.
"Wir sind die Genies, und ihr seid alle doof"
"Wenn man da oben arbeitet und auf die Welt nach unten schaut, dann sind die Menschen sehr klein, winzig. Wir haben da oben aus dem Fenster geguckt und haben gedacht: Wir sind die Schlausten, wir sind die Genies, und ihr seid alle doof." Der Mann, der das sagt, sitzt an diesem Tag nicht mehr ganz oben, sondern in einem kargen Kölner Loft. Er trägt eine Maske, damit er im Fernsehen nicht erkannt wird. Erst nach Zusicherung von Anonymität ließ er sich auf ein Interview ein, denn der Top-Insider aus der Phalanx der Steuerräuber ist der Hauptbelastungszeuge der Kölner Staatsanwaltschaft im wohl größten Steuer-Ermittlungsverfahren, das es je gab. 50 Millionen Euro hatte allein dieser Mann aus der Staatskasse erbeutet. Noch laufen die Ermittlungen, aber schon bald soll es die ersten Anklagen geben, und der Mann mit der Maske soll als Kronzeuge der Anklage dienen. So jemand macht sich keine Freunde, wenn er auspackt. Erst recht, wenn er hier erstmals vor die Öffentlichkeit tritt.
Mindestens 55,2 Milliarden Euro Schaden
Das ausführliche Interview ist Teil einer Recherche, die heute unter dem Titel "CumEx-Files" weltweit veröffentlicht wird. 19 Medien aus zwölf Ländern haben sich unter Leitung des Recherchezentrums CORRECTIV zusammengeschlossen, um den organisierten Griff in die Steuerkasse durch komplizierte Aktiendeals, die unter anderem als Cum-Cum- und Cum-Ex-Geschäfte bekannt geworden sind, zu untersuchen. Das Ausmaß dieser in der Branche als "steuergetriebene Geschäfte" bekannten Deals war weitaus größer, als bisher angenommen. Betroffen sind neben Deutschland mindestens zehn weitere europäische Länder. Der Schaden beläuft sich auf mindestens 55,2 Milliarden Euro. Und die Bundesregierung unterließ es über Jahre, ihre europäischen Partner zu warnen, obwohl sie längst von dem Raubzug wusste. Aus Deutschland waren Panorama, ZEIT, ZEIT ONLINE sowie NDR Info an den Recherchen beteiligt.
Für die "CumEx-Files" wurden mehr als 180.000 Seiten vertraulicher Akten sowie Unterlagen parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, interne Gutachten von Banken und Kanzleien, Kundenkarteien, Handelsbücher und E-Mails ausgewertet. Zusätzliche Interviews mit Insidern sowie verdeckte Recherchen in der Finanzindustrie belegen zudem, dass die Geschäfte bis heute weitergehen.
Rendite aus dem Steuersäckel
Die "steuergetriebenen Geschäfte" bezeichnet der Insider als "organisierte Kriminalität in Nadelstreifen", eine Industrie, in der Moral keinen Platz hatte. "Alle wussten, worum es geht: Dass man hier Rendite aus dem Steuersäckel holt."
Ihm drohen viele Jahre Haft, also entschloss er sich wohl auch deshalb auszupacken, um dem Gefängnis zu entgehen. Er war der erste von inzwischen mehreren Insidern aus dem innersten Kreis der Beschuldigten, der vollumfänglich mit der Staatsanwaltschaft kooperiert. Das Geld wird er zurückzahlen müssen. Die Ermittler halten ihn für glaubwürdig.
Im Interview berichtet er, wie der Angriff auf Europas Steuerzahler ablief, an dem er als Berater und Ingenieur der komplexen Finanzstrukturen teilnahm. Deutschland sei als größte Volkswirtschaft in Europa auch der größte Markt für "steuergetriebene Geschäfte" gewesen. Die Deals funktionierten in Deutschland rund um den Zeitpunkt, wenn die großen Aktiengesellschaften ihre Dividende ausschütteten. "Wir hatten eine Teufelsmaschine kreiert, sie lief aber immer nur im Frühjahr. Also ist man auf die Idee gekommen, eine Ganzjahresmaschine zu kreieren", sagt er. "Dafür boten sich Aktien anderer Länder an, wie Frankreich, Spanien und Italien, aber auch kleinere Länder wie Österreich, Belgien, Dänemark. Von Land zu Land kann es Abweichungen geben in der Regulierung." Dann habe man sich darauf eingestellt. "Im Kern hat der Steuerzahler aus dem betreffenden Land die Zeche bezahlt."
"Es handelt sich um den größten Steuerraub in der Geschichte Europas"
Die Recherchen im Zuge der "CumEx-Files" bestätigen die Aussagen und zeigen konkret, dass durch rein steuergetriebene Aktiengeschäfte rund um den Dividendenstichtag, also Cum-Ex, Cum-Cum und vergleichbare Handelsstrategien, neben Deutschland auch Frankreich, Spanien, Italien, die Niederlande, Dänemark, Belgien, Österreich, Finnland, Norwegen und die Schweiz geschädigt wurden. Der Schaden durch "steuergetriebene Geschäfte" von mindestens 55,2 Milliarden Euro ergibt sich aus Auskünften von Steuerbehörden sowie Analysen von Marktdaten. Der Steuerprofessor Christoph Spengel von der Universität Mannheim hatte bereits im vergangenen Jahr berechnet, dass dem deutschen Fiskus zwischen 2001 und 2016 mindestens 31,8 Milliarden Euro entgangen sind. Im Zuge der "CumEx-Files" kommen nun in Frankreich mindestens 17 Milliarden, in Italien 4,5 Milliarden, in Dänemark 1,7 Milliarden und in Belgien 201 Millionen dazu. Einige Staaten konnten Teilbeträge zurückfordern. Für die anderen betroffenen Länder liegen keine offiziellen Zahlen oder belastbare Marktdaten vor.
Bundesregierung warnte Partner erst 2015 vor Cum-Ex
"Es handelt sich um den größten Steuerraub in der Geschichte Europas", sagt Spengel. Möglich wurde er auch dadurch, dass ein Informationsaustausch über die steuerschädlichen Umtriebe innerhalb Europas kaum stattgefunden hat. So warnte Deutschland seine europäischen Nachbarn erst 2015 über eine OECD-Datenbank vor Cum-Ex-Geschäften, obwohl das Finanzministerium spätestens seit 2002 Bescheid wusste. Das Bundesfinanzministerium dementiert auf Anfrage nicht, die Nachbarn erst ab 2015 gewarnt zu haben, teilt aber generell mit, dass man "in der Vergangenheit diverse Staaten, unter anderem auf deren Nachfrage hin, über die Verfahrensweise bei Cum-Ex-Geschäften informiert" habe.
Steuern zu Unrecht erstatten lassen
Bei den in der Finanzbranche auch als "Tax Deals" bekannten Geschäften werden kurzfristig riesige, oft milliardenschwere Aktienpakete hin- und hergeschoben, um sich Steuern zu Unrecht erstatten zu lassen. Bei Cum-Ex-Geschäften und seinen Varianten wird eine einmal abgeführte Steuer sogar mehrfach erstattet. Neben Deutschland waren davon auch Belgien, Dänemark, Österreich, Norwegen und die Schweiz betroffen. So bestätigen es die jeweiligen Behörden, offiziell oder in Hintergrundgesprächen. In Spanien und Finnland zeigen Dokumente und Insider-Aussagen, dass Cum-Ex-Geschäfte geplant wurden. Die jeweiligen Behörden wollen weder bestätigen noch dementieren, dass es tatsächlich zu mehrfachen Steuererstattungen gekommen ist. Cum-Ex wird von der Bundesregierung als illegal eingestuft und ist Gegenstand zahlreicher staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren. Cum-Cum ist nicht per se illegal, die Bundesregierung geht aber von einem Gestaltungsmissbrauch aus, wenn die Geschäfte rein steuerlich motiviert sind. Dies ist nach Ansicht von Professor Spengel bei so gut wie allen am Markt angebotenen Modellen der Fall.
Fast alle großen Banken beteiligt
Aktiengeschäfte auf Kosten des Steuerzahlers waren ein branchenweites Phänomen, an dem fast alle großen Banken beteiligt waren. So schildert es auch der Insider: "Da können Sie sich eine aussuchen. Ich kenne kaum eine, die nicht dabei war." Und er legt dar, dass die Beteiligten wussten, dass der Profit aus der Steuerkasse kommt: "Jeder, der Kredite geliefert hat, der als Aktienhändler mitgewirkt hat, der als Depotbank nur Aktien verwahrt hat - jeder Anleger, der Geld zu Verfügung gestellt hat - wusste im Kern, was da passiert."
Verdeckte Recherchen zeigen: Der Steuerraub geht weiter
Dass die Geschäfte zulasten der europäischen Steuerzahler sogar bis heute weitergehen, zeigen verdeckte Recherchen. Reporter von Panorama und CORRECTIV gaben sich als Milliardäre auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten aus. Über einen fingierten Mittelsmann und eine zwischengeschaltete Briefkastenfirma nahmen sie Kontakt zu einem Investmentbanker auf, der seit Jahren als "Tax Trader" unterwegs ist. Sie zeigten Interesse an "steuergetriebenen Geschäften" und stellten in Aussicht, einen dreistelligen Millionenbetrag zu investieren. Bei einem Treffen in London übergab der Händler eine Präsentation, darin aktuelle Angebote in sieben europäischen Ländern, darunter Frankreich, Italien und Spanien. Er bestätigte, dass der Profit bei den angebotenen Aktiengeschäften aus der Steuerkasse kommt.
Gerhard Schick, Finanzexperte der Grünen und Initiator des Cum-Ex-Untersuchungsausschusses des Bundestags, sagt zu dem Angebot: "Ich verstehe das als direkte Fortsetzung von Cum-Ex und Cum-Cum. Die Rendite wird wieder allein aus Steuergeld erzielt."