Olaf Scholz und Cum-Ex: Sind Erinnerungslücken ansteckend?
In einem "Zeit"-Podcast erzählt Regierungssprecher Hebestreit, wie er ein Panorama-Interview mit Olaf Scholz zur Cum-Ex-Affäre verhinderte. Warum Panorama die Darstellungen zurückweist.
In der psychologischen Forschung ist inzwischen recht eindeutig belegt, wie leicht sich falsche Erinnerungen einschleichen. Suggestion und Einbildung bringen manche Menschen dazu, sich an Dinge zu erinnern, die tatsächlich nie geschehen sind.
Nun hat der Sprecher der Bundesregierung und langjährige Vertraute von Olaf Scholz, Steffen Hebestreit, in einem Podcast-Gespräch mit der "Zeit" seine Erinnerungen an ein Panorama-Interview mit dem damaligen Bundesfinanzminister Olaf Scholz aus dem Jahr 2020 kundgetan.
Treffender wäre allerdings "Interview-Versuch", denn Hebestreit griff dem Reporter bei laufender Kamera ins Mikrofon, schirmte Scholz ab und unterband so die Fragen an den heutigen Bundeskanzler zu seiner Rolle im Cum-Ex-Skandal rund um die Warburg Bank. Die pikante Szene wurde in der Panorama-Sendung vom 13. Februar 2020 ausgestrahlt und kursiert seitdem als Ausschnitt mit Meme-Charakter im Internet.
Hebestreit berichtet nun im "Zeit"-Podcast ausführlich, wie es seiner Erinnerung nach zu der ungewöhnlichen Situation kam, in der er - einem Bodyguard gleich - seinen Chef mit vollem Körpereinsatz vor unangenehmen Fragen schützte. Leider scheint der Regierungssprecher dabei unter ähnlichen Erinnerungsproblemen zu leiden wie sein Chef:
Kamerateam verwechselt?
1. So behauptet Hebestreit, seine Intervention sei nötig gewesen, weil das Panorama-Team gegen angebliche Absprachen verstoßen habe. Es habe, so Hebestreit, mit einem NDR-Team vorab eine Verabredung gegeben, einen tagesaktuellen O-Ton von Scholz zur Ministerpräsidentenwahl in Thüringen aufzuzeichnen und sonst keine weiteren Fragen zu stellen. In Thüringen war am selben Tag der FDP-Politiker Thomas Kemmerich mit Stimmen der AfD zum Regierungschef gewählt worden.
Hebestreit erinnert sich im Podcast folgendermaßen: "Es war relativ schnell klar, wir brauchen jetzt einen O-Ton. Der Bundeskanzler möchte in eine Kamera seinen Unmut über dieses Ereignis sprechen. Und es war klar abgemacht, wenn dort ein Kamerateam ist, vom NDR war das, glaube ich, dann würde man diesen O-Ton abgeben. Das war verabredet mit den Journalisten, die vor Ort waren." Der heutige Kanzler Scholz sei dann aus seinem Auto gestiegen und nicht sofort zu der Veranstaltung gegangen, "sondern wollte eben diese zwei Minuten diesen Kamera-Aufsager machen, um aktuell in die Tagesschau mittags zu kommen". Es sei dann aber nicht diese Frage gestellt worden, "die verabredet war", sondern "es wurde eine Frage gestellt zum Thema Warburg Cum-Ex, was zu diesem Zeitpunkt übrigens noch nirgends publik war". Deswegen habe er sich "vor diese Kamera gestellt und gesagt: So, nee, so haben wir nicht gewettet Freunde".
In der Diskussion, die auf den Interviewabbruch folgte, habe er klargestellt, dass man sich "doch hier nicht gegenseitig verarschen" wolle.
Hierzu stellt Panorama fest: Hebestreit hatte offenbar das Panorama-Team mit einem anderen erwarteten NDR-Team verwechselt. Da Panorama nichts von einem anderen NDR-Team wusste, konnte es sich schon deshalb nicht als "Aktuell-Team" ausgeben. "Verarschen" ist also eine falsche und unverschämte Anschuldigung gegen Panorama.
Im Einzelnen: Das Panorama-Team hatte sich ordentlich für die Veranstaltung "10 Jahre Hamburger Forum für Unternehmenssteuerrecht" an der Bucerius Law School akkreditiert, bei der Scholz in seiner Rede auch das Thema Cum-Ex streifte. Vor Beginn wies eine Sprecherin der Bucerius Law School darauf hin, dass weitere TV-Teams, unter anderem vom ZDF, vor Ort seien, um einen tagesaktuellen O-Ton zu Thüringen aufzunehmen. Hebestreit wies den Kameramann des Panorama-Teams dann kurz vor Scholz‘ Eintreffen darauf hin, dass dieser O-Ton vor dem Gebäude aufgenommen würde. Als Olaf Scholz dann vorfuhr, waren diese anderen TV-Teams überraschend nicht erschienen. So ergab sich die Gelegenheit, Scholz eine trotz wiederholter Anfragen bislang unbeantwortete Frage zu Unternehmenssteuern zu stellen, nämlich zum Cum-Ex-Fall Warburg. Noch bevor die Frage ausgesprochen war, griff Hebestreit dem Reporter ins Mikro und schirmte Scholz ab.
Angebliche Regel für Politiker-Interviews?
2. Hebestreit begründet im "Zeit"-Podcast seine Intervention auch damit, dass er einen "Versuch, Regeln zu brechen", unterbunden habe, und bewertet das versuchte Interview wörtlich als "Regelverstoß". Grundsätzlich, so Hebestreit im Podcast, sei "die Erwartung, dass man Leute mit seinen eigenen Rechercheergebnissen konfrontieren kann, ohne dass die eigentlich vorher Bescheid wissen, worum es geht", sehr schwierig. Spitzenpolitiker würden Investigativformaten im Fernsehen nur ungern Interviews geben, stattdessen würden meist "schriftliche Statements" eingeblendet. Und er legt Wert darauf, dass das "Thema Warburg Cum-Ex" (gemeint ist wohl Scholz‘ Verwicklung hierin) zum Zeitpunkt des versuchten Interviews noch nicht öffentlich bekannt war. Hebestreit suggeriert damit, dass er von dem Interesse des NDR an den Cum-Ex-Verwicklungen von Olaf Scholz vorher nichts gewusst habe und daher unfair überrumpelt worden sei.
Hierzu stellt Panorama fest: Der Kern von Journalismus ist die Berichterstattung über Tatsachen und Missstände, die vorher nicht öffentlich bekannt waren. Es gibt keine "Regeln", nur nach öffentlich Bekanntem zu fragen. Eine solche "Regel" wäre nicht nur unvereinbar mit der journalistischen Unabhängigkeit, sie würde kritischen Journalismus unmöglich machen.
Was Hebestreit zudem verschweigt: Panorama hatte bereits vier Tage vor dem angeblichen "Regelverstoß" die von Hebestreit geleitete Pressestelle des Bundesfinanzministeriums (BMF) schriftlich um eine Stellungnahme von Scholz zur Cum-Ex-Thematik gebeten und konkrete Fragen mit Bitte um schriftliche Statements übersandt. Trotz mehrfacher Verlängerung der Antwortfrist beantwortete das BMF diese Anfrage vor dem Interviewversuch nicht. Der Scholz-Sprecher und sein Ministerium wussten also sehr wohl über die Recherchen des NDR zu den Cum-Ex-Verwicklungen von Scholz Bescheid.
Nach dem unterbundenen Interview bestätigte Hebestreit dem Panorama-Team, dass er von der Anfrage und der versäumten Antwortfrist Kenntnis hatte. Das ist auch wenig überraschend angesichts der politischen Tragweite, die ein kompetenter Pressesprecher wie Hebestreit sicher antizipiert haben dürfte. Tatsächlich war die Panorama-Berichterstattung im Februar 2020 der Auftakt einer ganzen Reihe an Enthüllungen zu den Cum-Ex-Verwicklungen von Olaf Scholz. Sie führten nicht nur zu mehreren Befragungen des heutigen Kanzlers im Bundestag, sondern auch zu einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss in Hamburg. Zuletzt bestätigte zudem der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil, dass die Berichterstattung "einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit in höchstem Maße berührenden Frage geleistet" habe. Von einem "Regelverstoß" kann also keine Rede sein.
Panorama hat sich nicht entschuldigt
3. Hebestreit behauptet in dem "Zeit"-Podcast-Gespräch, es habe "dann später im Übrigen auch eine Entschuldigung der jeweiligen Redaktion" gegeben.
Hierzu stellt Panorama fest: Panorama hat sich nicht entschuldigt. Es gibt auch keinen Grund dafür. Das Panorama-Team hat einwandfrei und sauber gearbeitet und eine Szene von zeithistorischer Bedeutung eingefangen, die geradezu exemplarisch den öffentlichen Umgang von Olaf Scholz und seinem Team mit der Causa Cum-Ex dokumentiert: Mauern, bis es nicht mehr anders geht. Auch deshalb dürfte der Ausschnitt bis heute im Internet verbreitet sein. Und damit sind wir wieder beim Anfang - und der psychologischen Erkenntnis, wie leicht sich falsche Erinnerungen einschleichen. Man muss sie sich nur oft genug einreden.
Anmerkung der Redaktion: Steffen Hebestreit schreibt auf Anfrage von Panorama: "Mit Blick auf Ihre Feststellung, dass sich die Panorama-Redaktion nicht entschuldigt habe, kann ich klar sagen: Das stimmt - Panorama hat es nicht für nötig befunden, sich zu entschuldigen. Diesen Eindruck wollte ich auch nicht erwecken, sonst hätte ich das in dem Podcast sicherlich klarer formuliert." Ansonsten bleibt er bei seiner Darstellung im "Zeit"-Podcast.