Eltern sitzen zusammen mit ihrem Sohn auf einer Couch und schauen lächeld auf ein Tablet. © WavebreakmediaMicro

Heldenhaftes Gammeln: Appell aus der Wohlstandsblase

Stand: 16.11.2020 13:43 Uhr

Im Kampf gegen das Coronavirus setzt die Politik auf die Einschränkung der Freizeit und ideologische Appelle. Das wird nicht reichen. Ein Kommentar von Andrej Reisin.

von Andrej Reisin

ZAPP Autor Andrej Reisin. © Christian Spielmann Foto: Christian Spielmann
Panorama-Autor Andrej Reisin.

Die Bundesregierung hat eine neue PR-Kampagne, produziert von der Firma der Entertainer Joko und Klaas: Zu sehen ist unter dem Hashtag #besonderehelden ein fiktives Chemnitzer Rentnerpärchen namens Lehmann, das aus der Zukunft retrospektiv darüber berichtet, wie es mit Zuhausebleiben und Nichtstun "damals im Corona-Winter 2020" die Pandemie besiegt hat. "Tage und Nächte blieben wir auf unserem Arsch zu Hause und kämpften gegen die Ausbreitung des Corona-Virus. Unsere Couch war die Front und unsere Geduld war die Waffe." "Tapfer herumgegammelt", habe man. Die Videos enden mit dem Aufruf: "Werde auch du zum Helden und bleib zuhause."

Schuld sind immer die anderen

Schuld an der Ausbreitung sind im Umkehrschluss diejenigen, die nicht zuhause geblieben sind, die Party gemacht haben, die sich mit Freunden getroffen haben, die im Theater waren oder in der Kneipe. In dasselbe Horn stoßen etliche Mitglieder der Bundes- und Landesregierungen bereits seit dem ersten Lockdown im Frühjahr. So wird der bayerische Ministerpräsident Markus Söder nicht müde, die "Unvernünftigen" zu schelten und nach harten Strafen für angebliche "Superspreader" zu rufen.

Die Erzählung, wonach sich eine Pandemie deswegen ausbreitet, weil Menschen sich nicht an Regeln halten, ist wohlfeil und entlastend, denn erstens wendet es die Verantwortung von der Politik ab - und zweitens sind damit immer andere schuld: grillende Familien im Park, Fetisch-Partys in Berlin und im Zweifelsfall natürlich religiöse oder Hochzeitsfeiern von Menschen mit Migrationshintergrund. Spätestens seit der Pest im Mittelalter weiß man, dass Plagen immer auch Sündenböcke brauchen. Doch momentan sind drei Viertel aller Ansteckungen nicht mehr nachvollziehbar - in Großstädten teilweise noch mehr.

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Wer kann "zuhause bleiben" und "gammeln"?

Es ist deshalb zwar richtig, wenn die Kanzlerin sagt, dass "wir alle" unsere Kontakte um drei Viertel reduzieren sollten. Doch wie sollen zum Beispiel Verkäufer das machen? Auch jenseits des Einzelhandels gibt es zahlreiche Gruppen, die dasselbe Problem haben: Mehr als jeder fünfte Bundespolizist war oder ist laut Medienberichten in Quarantäne. Polizisten, Busfahrer, Fabrikarbeiter, Krankenhauspersonal, Handwerker, Lehrer, Erzieher, Rettungssanitäter, Lieferanten, Paketzusteller, Beschäftigte im öffentlichen Dienst mit Publikumsverkehr, Sozialarbeiter, Pflegekräfte, Putzkolonnen, Schornsteinfeger, Tierärzte, Physiotherapeuten - und natürlich Schüler: Sie alle können ihre Kontakte kaum wie gefordert reduzieren.

Insgesamt gibt es laut Statistischem Bundesamt etwa 45 Millionen Erwerbstätige. Davon arbeiten allein ca. drei Millionen im Einzelhandel, sechs Millionen im Gesundheits- und Sozialbereich, siebeneinhalb Millionen im verarbeitenden Gewerbe und zehn Millionen im produzierenden Gewerbe. Etwa drei Millionen Menschen sind im öffentlichen Dienst tätig und gut acht Millionen sind Schüler.

Nach Umfragen des Münchner IFO-Instituts haben nur 56 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland "prinzipiell einen Zugang zu Homeoffice". Aber selbst auf dem Höhepunkt im April 2020 arbeiteten demzufolge lediglich 34 Prozent der Beschäftigten ganz oder auch nur teilweise im Homeoffice - und das unter den Bedingungen eines Lockdowns mit der Schließung von Schulen und Handel. Das heldenhafte Zuhausebleiben entpuppt sich so als Ideologie der oberen Schichten mit akademischer Ausbildung, die ihrer Erwerbstätigkeit vom heimischen PC aus nachgehen und sich auf Twitter über Regelbrecher echauffieren können.

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Wenn schon Schutz, dann für alle

Auch die vom Bund heute offenbar geforderten Verschärfungen der aktuellen Maßnahmen zielen wieder vor allem, ja beinah ausschließlich auf die Freizeit. Von strengeren Auflagen für Arbeitgeber jenseits des Wunsches, doch bitte Home Office zu ermöglichen, hört man dagegen wenig. Immerhin: Zumindest in den Schulen soll es nun offenbar auch zu einheitlichen Regelungen kommen.

Denn allein in Hamburg sitzen beispielsweise gut 250.000 Schüler täglich mit 20-30 anderen über Stunden hinweg in Räumen, wo allein Lüften und teilweise Masken Ansteckungen verhindern sollen. An der weiterführenden Ida-Ehre Schule lagen nach einem Massentest von rund 1.200 Schülern und Lehrkräften insgesamt 55 positive Fälle vor. Dies entspräche einer 100.000er-Inzidenz von sage und schreibe 4.583 Fällen. Die Schule wurde daraufhin für zehn Tage geschlossen.

Zum Vergleich: Die aktuelle 7-Tage-Inzidenz für Hamburg liegt bei 162,3 Fällen. Natürlich lassen sich beide Zahlen nicht umstandslos vergleichen, da unter anderem eine ohnehin besonders stark betroffene Altersgruppe getestet wurde, aber ein Indiz ist dieser Befund trotzdem: Denn wenn die Inzidenz gut 28(!) Mal höher ist als in den aktuellen RKI-Zahlen für die Gesamtbevölkerung, dann sollte man entweder alle Schulen einem Massentest unterziehen - oder die Dunkelziffer in der Bevölkerung ermitteln, indem man zufällig ausgewählte Hamburger testet. Bei einer derartigen Positivrate kann jedenfalls niemand mehr behaupten, Schulen trügen per se nicht maßgeblich zur Pandemie bei. Österreich schließt sie aus diesem Grund nun wieder.

Dasselbe gilt für Betriebe, die Büros, Konferenz- und Pausenräume nicht so gestalten (können), dass der Abstand gewahrt werden kann. Es gilt für alle Menschen, die eng mit anderen arbeiten müssen. Es gilt für Handwerker, die ihren Mittag zu dritt im Fahrerhaus des Pritschenwagens verbringen müssen. Die Behauptung, wenn nur alle mitmachten, zuhause blieben und sich an die Regeln hielten, wäre die Pandemie zu besiegen, ignoriert deshalb mit ideologischer Blindheit, dass Menschen täglich millionenfach unsichere Orte aufsuchen müssen - und zwar, ob sie wollen oder nicht. Nur, wenn es dafür langfristig wirksame Konzepte gibt, kann eine dauerhafte Eindämmung gelingen.

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