Die Not der Obdachlosen zu Corona-Zeiten
Sozialhelfer sind entsetzt darüber, wie das Winternotprogramm für Obdachlose in Hamburg ausgestaltet werden soll: Fünf- bis Achtbettzimmer sind in Planung; die Stadt nennt das eine "lockere Belegung".
Aus dem Aufenthaltsraum der Tagesstätte Alimaus in Hamburg ist ein Abstellraum geworden. Geschäftsführerin Christiane Hartkopf führt durch den Saal, in dem eigentlich Platz für 60 obdachlose Menschen ist, die sich hier ausruhen und aufwärmen können. Eigentlich. "Es kommen im Moment keine Gäste zu uns", sagt Hartkopf. "Mit Abstand bekämen wir 15 Personen in den Saal." Mehr ist unter Einhaltung der Hygieneregeln für den Schutz vor Covid-19 nicht erlaubt. Danach müsste alles desinfiziert werden. Das können Hartkopf und ihr Team aber nicht leisten, schließlich kommen in normalen Zeiten jeden Tag 200 obdachlose Menschen zur Alimaus.
Nur das Nötigste
Die Gäste können nicht mehr im Saal essen, sondern bekommen nun das Mittagessen herausgereicht durch die Tür der Einrichtung, als Lunchpaket. Und die für viele Gäste so wertvollen Unterhaltungen fallen weg. Es bleibe häufig bei einem "Hallo, wie geht’s", erzählt Hartkopf. "Wenn da mal eine kleine Lücke in der Schlange ist, dann kann man zwei Sätze mehr wechseln, aber mehr ist dann nicht." Dringende Probleme bekämen sie trotzdem meist noch mit. Das macht den Helfenden zu schaffen.
Christiane Hartkopf ist frustriert. "Es ist ganz fürchterlich", sagt sie. Die meisten ihrer Gäste kämen jeden Tag, teils schon seit zehn Jahren, "weil das für sie ein bisschen dieser Familien- und vielleicht auch Zuhause-Ersatz ist." Genau das soll die katholische Tagesstätte auch sein. "Wir wollen einen lebendigen und guten Kontakt mit unseren Gästen haben, einen selbstverständlichen Umgang", sagt sie. "Aber das wird gerade reduziert auf das Gefühl: Man ist ein Mensch, der bettelt." Hinzu kommt die Angst vor einer Ansteckung mit Covid-19. "Ich fühle mich ungeschützt, absolut ungeschützt", erzählt einer der Wartendenen in der Schlange vor der Essensausgabe. "Ich habe Angst davor, dass ich sterbe, dass ich am nächsten Tag nicht mehr aufstehe."
Schlecht gewappnet für den Winter
Alimaus betreibt auch ein Gesundheitsmobil, das jeden Sonntag eine mobile medizinische Versorgung für Bedürftige anbietet. Ronald Kelm organisiert den Medizinbus, gibt den Patienten Wartenummern, spricht mit ihnen, während sie auf ihren Termin bei den ehrenamtlichen Medizinerinnen warten. Er macht sich große Sorgen um die obdachlosen Patienten. Sie seien gestresster, aggressiver, zeigten eine große psychische Belastung, sagt er. Aber das Schlimmste: "Wir sehen deutlich, dass die Menschen abgenommen haben."
Ein riesiges Problem, denn eigentlich ist der Sommer die Zeit, in der sich obdachlose Menschen erholen könnten, Ruhe finden, ein bisschen Winterspeck anlegen. Durch die Corona-Pandemie sei das nicht möglich gewesen. Stattdessen stieg die Todeszahl: Seit Mai wurden in Hamburg acht tote obdachlose Menschen gefunden, viel mehr als sonst. "Ich finde das eine erschreckende Zahl“, sagt Kelm. "Der Winter kommt noch, und wir haben jetzt schon eine sehr angespannte Situation überall. Ich denke mit Schrecken daran, wie es weitergeht."
Winternotprogramm der Stadt startet
Um die Schwierigkeiten etwas aufzufangen, hatte die Stadt ein Notübernachtungsprogramm über den Sommer laufen lassen. Mit dem Beginn des Novembers startet nun auch das reguläre Winternotprogramm, für das ein neuer Übernachtungsstandort mit 250 Plätzen und auch eine Tagesstätte mit 200 Plätzen öffnen sollen. Insgesamt will die Stadt so nach eigener Aussage bis zu 1.050 Betten anbieten - in Mehrbettzimmern. Dabei sind viele obdachlose Menschen besonders von Covid-19 gefährdete Menschen, auch weil sie häufig chronische Vorerkrankungen wie beispielsweise Diabetes oder Bluthochdruck haben.
"Wir werden sehr gründlich lüften und reinigen", sagt der Sprecher der Sozialbehörde, Martin Helfrich. Geplant sei eine "lockere Belegung" der Zimmer, also nicht jedes Bett werde genutzt. Zudem seien 120 Plätze für eine Quarantäne-Station bereitgehalten, falls es zu einem Ausbruch komme. Da die Menschen mit mehreren Fremden in einem Zimmer schlafen müssen, könne die Stadt nicht garantieren, dass sie vor eine Corona-Ansteckung sicher seien. "In allen Lebensbereichen ist es so, dass wenn man mit anderen Menschen in Kontakt kommt, eine Infektion möglich sein kann", sagt Helfrich.
Keine Einzelunterbringung im Hotel
Für Helferinnen wie Christiane Hartkopf oder Ronald Kelm ist das unverständlich. Im Frühjahr hatte die Alimaus gemeinsam mit dem Stadtmagazin-Projekt "Hinz & Kunzt" und der Diakonie rund 170 obdachlose Menschen in Hostels und Hotels untergebracht. Möglich gemacht hatte das die Spende eines großen Hamburger Unternehmens. "Mir ist schleierhaft, warum die wirklich effektive Hilfe der Einzelunterbringung im Hotel nicht angeboten wird", sagt Hartkopf. Denn die teilnehmenden Hostels und Hotels würden sofort wieder obdachlose Menschen aufnehmen. Bei der Diakonie, einem der größten freien Träger in der Hamburger Obdachlosenhilfe, ist die Haltung die gleiche.
Das Bedpark Hostel im Schanzenviertel ist eines der Hostels, die obdachlose Gäste aufgenommen haben. Hier gab es Einzelzimmer und - wenn sich zwei Personen gut kannten - auch Doppelzimmer für die obdachlosen Gäste. "Wir reden nicht von einem 3-Sterne-Hotel", sagt Managerin Myléne Delattre. "Es ist ein Hostel, aber absolut ausreichend für den Zweck, den wir im Kopf hatten: Die Leute zur Ruhe kommen zu lassen und sie vor der Pandemie zu schützen." 30 Euro die Nacht haben sie dafür genommen, konnten so Leerstand vermeiden - und etwas Gutes tun. Zwei der Gäste von damals arbeiten mittlerweile als Hausmeister für das Hostel, andere haben außerhalb Jobs gefunden und wohnen jetzt weiter zur Miete.
Stadt hält an Massenunterkünften fest
"Wir haben den Kontakt zu der Stadt gesucht, um die Möglichkeiten abzudecken, wie wir die Obdachlosen weiterhin und langfristig vor allem unterstützen können und bei uns unterbringen können", sagt Delattre. Dies sei ohne Reaktion geblieben, sagt sie.
"Aufgabe des Staates ist es aber, eine Mindestversorgung sicherzustellen", sagt Sozialbehörden-Sprecher Helfrich. "Wir sind gehalten, ein Schutz sicherzustellen, dass Menschen in kalten Nächten auf frostigen Situationen nicht in schwierige Situationen geraten." Das sei über das Notprogramm der Stadt gegeben. Ob dies wirklich gut gehen kann, wird erst der Winter zeigen.