Reicht St. Paulis Power-Abwehr auch gegen den FC Bayern München?
Am Sonnabend empfängt Bundesliga-Aufsteiger FC St. Pauli den FC Bayern München. Die Daten zeigen: Der Aufsteiger ist bislang defensivstark, im Offensivspiel aber noch zu ungenau und langsam. Gelingt es den Hamburgern, ihr Umschaltspiel explosiver zu gestalten, bieten sich auch gegen den Rekordmeister Chancen.
Kurz vor dem Ende schepperte es so richtig. Kaum war im Millerntor-Stadion wieder angepfiffen, lag der Ball erneut im Tor. Binnen vier Minuten (84., 86., 88.) erzielte der FC Bayern an diesem Nachmittag in Hamburg die Treffer sechs, sieben und acht und sorgte mit dem 8:1-Kantersieg für Dreierlei: den endgültigen Abstieg St. Paulis in der Saison 2010/2011, die höchste Bundesliga-Heimniederlage der Braun-Weißen und den eigenen höchsten Auswärtssieg in der Beletage des deutschen Fußballs. Die "Rekorde" - St. Paulis negativer genauso wie Bayerns positiver - haben seit jenem 33. Spieltag Bestand.
Ein Wiedersehen nach knapp 5.000 Tagen
An diesem Sonnabend (15.30 Uhr, im NDR Livecenter) treffen beide Teams erstmals wieder in der Bundesliga aufeinander. Knapp 5.000 Tage liegen zwischen den beiden Partien und an der Rollenverteilung hat sich nichts verändert. Hier die Gastgeber, die als Aufsteiger der klare Underdog sind. Dort die Gäste aus München, die der ohnehin umfangreichen Trophäensammlung seit jenem 7. Mai 2011 alleine zwei weitere Champions-League-Titel hinzufügten.
Aufsteiger St. Pauli hat eine der besten Defensiven
Einen wesentlichen Unterschied aber gibt es: Während St. Pauli damals auch vor der bayrischen "Watschn" schon eine der schlechtesten Defensiven der Liga hatte, stellen die Hamburger vor der Partie am Sonnabend eine der besten Abwehrreihen in Deutschlands höchster Spielklasse. Nur elf Gegentreffer in neun Partien sind an sich schon ein starker Wert - für einen Aufsteiger ist er es allemal. Lediglich Leipzig mit fünf, der FCB mit sieben und Union Berlin mit acht Gegentoren sind in dieser Hinsicht besser als das Team von Trainer Alexander Blessin.
Ein weiteres bajuwarisches Scheibenschießen ist zumindest nach dem bisherigen Saisonverlauf aller Torlaune des Rekordmeisters (32 Treffer) zum Trotz nicht zu erwarten.
Mets und Co. stehen um Meter tiefer
Das hat vor allem mit der veränderten, deutlich defensiveren Herangehensweise St. Paulis unter Blessin zu tun. Ein Ausdruck davon: Die Dreier-Abwehrkette mit Karol Mets, Eric Smith und Hauke Wahl steht deutlich tiefer als in der vergangenen Zweitliga-Saison unter Vorgänger Fabian Hürzeler. Wie die Daten des Global Soccer Networks (GSN) zeigen, agieren Mets und Wahl etwa sechs Meter weiter hinten, bei Abwehrchef Smith sind es sogar fast 7,30 Meter.
Zweikampfstark, laufstark, kompakt
Diese Maßnahme des 51-Jährigen hilft laut GSN, "das Team besser gegen hohe Bälle und vertikale Angriffe" zu stabilisieren, zumal die Kompaktheit die Abstimmung mit dem Mittelfeld erleichtere. Den Analysen zufolge zeichnet St. Pauli unter Blessin - so wie er es bei seiner Präsentation angekündigt hatte - ein effektives Pressing sowie eine hohe Zweikampfstärke aus. Mit 50 Prozent gewonnener Bodenzweikämpfe belegt das Team ligaweit Rang vier - eine starke Quote.
1.095 Kilometer in neun Partien - St. Pauli mit Siebenmeilenstiefeln
Laut GSN sind die Hamburger zudem stark in der Flügelverteidigung sowie im flexiblen Verschieben. Merkmale, die auch die - wie schon in der Vorsaison - starken Laufwerten unterstreichen: St. Pauli ist die mit Abstand laufstärkste Mannschaft, wenn es um die Gesamtkilometer geht. Rund 1.095 Kilometer waren es in neun Partien - im Schnitt mehr als 121 Kilometer. Dabei gehören die Braun-Weißen aber auch zu den Teams, die - ebenso wie die Bayern - mit die meisten intensiven Läufe machen (740 zu 733 zugunsten von St. Pauli). Nur Holstein Kiel hat einen noch höheren Wert (741).
Viele Balleroberungen, wenig Ertrag
Auch aufgrund der kompakten Abstände und der von den GSN-Analysten attestierten "engen Abstimmung der Mannschaftsteile" gelangen der Mannschaft in den bisherigen neun Bundesliga-Begegnungen mehr als 28 Balleroberungen pro Spiel in der gegnerischen Hälfte (Rang sieben), wodurch der Gegner häufig in seiner eigenen Hälfte gebunden wird.
Von den Stürmern Johannes Eggestein, Morgan Guilavogui und Oladapo Afolayan über die Außenverteidiger Manolis Saliakas und Philipp Treu (fehlt "bis auf Weiteres" verletzt) sowie das zentrale Mittelfeld um Kapitän Jackson Irvine sind viele Spieler in Pressing und Gegenpressing involviert.
Genau an dieser Stelle aber beginnen auch die Probleme des Blessin-Teams. Denn die von ihm avisierten schnellen Umschaltmomente und Gegenangriffe aus Ballgewinnen, so wie er sie äußerst erfolgreich bei Union Saint-Gilloise in Belgien spielen ließ, funktionieren aktuell noch nicht. Nur 0,33 solcher "Konter-Attacken" spielt St. Pauli den Daten nach pro Partie - das ist, obwohl vor der Saison zum Stilmittel erklärt, deutlich unterdurchschnittlich.
Transformation des Spielstils dauert an
Vielmehr agiere das Team "eher kontrolliert und langsam, was dazu führt, dass sich der Gegner gut positionieren kann, bevor St. Pauli in den Angriff übergeht". Ein Indikator dafür, dass die Mannschaft sich noch in der Transformation von Hürzelers Ballbesitz-Fußball in einer schwächeren Liga hin zu dem auf Balleroberungen und Gegenangriffen basierenden Spiel Blessins eine Klasse höher befindet.
In der Konsequenz stellen die Hamburger aktuell trotz der zwei Tore beim Erfolg gegen die TSG Hoffenheim mit sieben Treffern den schwächsten Angriff der Liga. Was kaum verwundert, da die Mannschaft auch bei den "Expected Goals", den hochkarätigen Chancen und der Effektivität vor dem generischen Tor jeweils Letzter im Ligavergleich ist.
St. Pauli | Durchschnitt | Ligaplatz | |
---|---|---|---|
Tore (im Schnitt) | 0,78 | 1,65 | 18. |
Erwartete Tore | 0,99 | 1,62 | 18. |
Ausnutzen von Chancen (Effektivität) | 9,2 Prozent | 16,5 Prozent | 18. |
Balleroberungen in gegnerischer Hälfte | 28,22 | 27,27 | 7. |
Gegenangriffe | 0,33 | 0,92 | 16. |
Erfolgreiche Pässe in den gegnerischen Strafraum | 48 Prozent | 50 Prozent | 11. |
Es fehlt an Kreativität
In anderen Worten: St. Pauli tut sich schwer, den Ball in die gefährliche Zone zu bringen. Das hat verschiedene Gründe: eine zu geringe Kreativität im letzten Drittel (Steckpässe zum Beispiel), ineffektive Flanken sowie schwache Standards. Hinzu kommt, dass das Team im Passspiel - sicher auch aufgrund des größeren Gegnerdrucks in der höheren Spielklasse - zu deutlich mehr längeren und damit risikoreicheren Pässen greift (plus 37 Prozent). Durchschnittlich fast anderthalb Meter länger sind die Pässe der Mannschaft in dieser Spielzeit im Vergleich zur Vorsaison.
Ausbaufähige Passquote
Diese "pragmatische Herangehensweise" werten die GSN-Analysten als durchaus gangbaren Weg, um mit dem planbar geringeren Ballbesitz umzugehen. Das hatte auch Blessin im Sommer schon erkannt und benannt. Rund 45 Prozent waren es im bisherigen Saisonverlauf. Statt rund 520 spielt St. Pauli nur noch etwa 400 Pässe pro Partie. So weit, so erwartbar und einkalkuliert. Und doch ist die Passquote mit knapp über 80 Prozent aktuell zu schwach, um mehr Kapital aus den Balleroberungen zu schlagen.
Die Hamburger beherrschen also mit dem starken gesamtmannschaftlichen Verteidigen eine wichtige "Disziplin", um in der Bundesliga zu bestehen - siehe die starken Leistungen in Dortmund (1:2) sowie in der Liga gegen Leipzig (0:0). Nun gilt es, darauf aufbauend, das Offensivspiel zu kultivieren.
Einer wie Hartel fehlt
Der Fokus muss dabei vor allem auf einer Verbesserung des Umschaltspiels, einer höheren Passgenauigkeit sowie mehr dynamischen Läufen in die Tiefe gelegt werden, um gegnerische Abwehrreihen besser aufzumischen. Vor allem das Fehlen von Marcel Hartel, der nun in den USA kickt, macht sich hier bemerkbar.
Bayern anfällig bei schneller Verlagerung
Alle drei Elemente könnten - neben einer weiterhin kompakten Defensive - gegen den FC Bayern zu Erfolgsfaktoren für die Hamburger werden. Denn die Münchner erzielen zwar in nahezu jeder erdenklichen Offensiv-Statistik von der Zahl der Abschlüsse über die Chancen aus Positionsangriffen bis hin zu den erwarteten Toren ligaweit Spitzenwerte und sind zudem in der Ballzirkulation sowie im Pressing unter Neu-Trainer Vincent Kompany die klare Nummer eins.
FC Bayern München | Durchschnitt | Ligaplatz | |
---|---|---|---|
erwartete Gegentore | 0,71 | 1,62 | 1. |
zugelassene Schüsse | 4,78 | 12,43 | 1. |
Pässe | 753 | 453 | 1. |
Erfolgreiche Pässe im gegnerischen Drittel | 363 | 147 | 1. |
Erwartete Tore | 2,56 | 1,62 | 2. |
Und doch bieten sie, wie insbesondere der FC Barcelona in der Champions League demonstrierte, durchaus Angriffsfläche. Erfolgsversprechend könnte etwa ein situatives Pressing auf die Sechser und die Innenverteidigung des Rekordmeisters sein. Zudem liegen nach Ballgewinnen Chancen in schnellen, diagonalen Verlagerungen auf die pressing-ferne Seite, da "Bayerns Pressing oft sehr einseitig ist und sich sich auf die Ballseite konzentriert".
FCB hat Tempodefizite in der Verteidigung
Räume bieten sich zum Beispiel hinter den meist sehr hoch aufgerückten Außenverteidigern, zudem könnte insbesondere Oladapo Afoloayan mit seiner Geschwindigkeit die Tempodefizite in der Abwehr des FCB attackieren. Dann könnte im fünften Heimspiel der Saison erstmals auch die Tormusik "Song 2" von Blur im Millerntor erklingen.
Wofür das am Ende reichen würde, bleibt abzuwarten, eine Gegentor-Flut wie vor 13 Jahren aber ist nicht zu erwarten. Und das erhöht ja schon mal die Chancen. Auch gegen den FC Bayern.