Im Würgegriff der Wettanbieter: Die Ohnmacht der Amateurclubs
Bei den Hamburger Fußball-Oberligisten schrillen nach den Berichten über bundesweit 17 unter Manipulationsverdacht stehende Spiele die Alarmglocken, da auch zwei Partien der Stadtliga möglicherweise beeinflusst wurden. Die Vereine würden das kommerzielle Tippen auf die Begegnungen gerne unterbinden, sind letztlich aber machtlos.
Das Ordnungspersonal des ETSV Hamburg wirkt am Sonntagmittag vor Beginn der Partie gegen den Eimsbütteler TV ungewohnt angespannt. Die Männer mit den gelben Warnwesten gehen im Stadion an den Sander Tannen in Bergedorf auf und ab und mustern nahezu jeden Zuschauer genau. Sie sind vom Sicherheitsbeauftragten des Oberligisten, Martin Zajonc, dazu angehalten worden, nach sogenannten Datenscouts Ausschau zu halten. Dabei handelt es sich um Personen, die das Spielgeschehen via Smartphone an Wettanbieter weitergeben, sodass auf deren Websites Livewetten platziert werden können.
Wettanbieter mit Sitz auf der Karibikinsel Curaçao
"Noch habe ich keinen entdeckt", sagt ein Ordner kurz vor dem Anpfiff. Er und seine Kollegen müssen aber befürchten, dass irgendwer unter den 250 Zuschauern im weiten Rund doch die Daten zum Fünftliga-Spiel in Echtzeit weitergibt. Denn wie zuvor Recherchen des NDR ergeben haben, kann auf die Begegnung der siebten Oberliga-Runde bei mindestens drei Wettanbietern - jeweils mit Sitz auf der Karibikinsel Curaçao - gesetzt werden.
Und: Auf allen drei Websites wurde die Möglichkeit der Livewette angekündigt. Das bedeutet, dass beispielsweise auf das erste Tor oder den Halbzeitstand getippt werden kann. Dafür aber müsste ein Datenscout das Spielgeschehen in Echtzeit weitergeben.
Laut Glücksspielstaatsvertrag sind Wetten auf Amateurspiele in Deutschland verboten. Bei ausländischen Anbietern sind diese Wetten aber weiter möglich. Nach Recherchen von BR und ARD-Radio-Recherche Sport befinden sich darunter auch Anbieter ohne behördliche Erlaubnis - aber auch Buchmacher mit deutscher Lizenz, wie zum Beispiel Betano, Werbepartner der EM 2024.
Altona 93 verweist Datenscout des Stadions
Am Tag vor dem ETSV-Spiel hatte sich ein Datenscout bei der Partie von Altona 93 gegen den SC Vorwärts-Wacker Billstedt zwischen die Zuschauer im Stadion an der Griegstraße gemischt. Der Mann saß in einer der hinteren Reihen auf der Haupttribüne und telefonierte in englischer Sprache fortwährend. Doch das Sicherheitspersonal des AFC erblickte den Datenscout und verwies ihn sofort der Anlage. Anschließend gab es auf den Websites der Wettanbieter keine Live-Informationen mehr zu der Partie.
"Er hat uns mitgeteilt, dass sein Arbeitgeber ihn hier hingeschickt hat, um statistische Daten zu erheben. Er hat angegeben, dass ihm nicht bewusst ist, was mit diesen Daten passiert", erklärte Mirja Grupe, die Sicherheitsbeauftragte von Altona 93, dem NDR: "Wir haben seine Personalien und warten jetzt mal ab. Gegebenenfalls behalten wir uns weitere Schritte vor." Wie viel Geld bis zum Verweis des Datenscouts aus dem Stadion bereits auf das Spiel gesetzt wurde, ist unbekannt. Wer allerdings auf Außenseiter Billstedt getippt hatte, ging leer aus: Der Aufsteiger unterlag mit 0:4.
AFC-Coach Bergmann: "Das macht alles kaputt"
Den großen Reibach, so viel steht fest, machen ohnehin die ausländischen Wettanbieter. Denn während es ihren deutschen Konkurrenten gesetzlich verboten ist, Amateurspiele zu offerieren, bewegen sie sich nahezu im rechtsfreien Raum. Und der Ausblick auf das schnelle Geld könnte den einen oder anderen Feierabend-Kicker dazu verleiten, auf die eigenen Partien zu setzen - und sie dann schlimmstenfalls zu beeinflussen. AFC-Coach Andreas Bergmann wird beim Gedanken an dieses Szenario ganz anders: "Das macht alles kaputt."
Livewetten bei Türkiye - Buchholz möglich
Während es Altona am Sonnabend gelang, einen Datenscout ausfindig zu machen, hatte sich zweieinhalb Stunden zuvor ein solcher im Spiel des FC Türkiye gegen den TSV Buchholz 08 unauffällig zwischen die Zuschauer gemischt. Das Südderby der Oberliga war am siebten Spieltag die einzige Begegnung, auf die zumindest bei einem der drei vom NDR beobachteten Anbietern mit Sitz auf Curaçao Livewetten möglich waren.
In einem kleinen Kasten rechts oben auf der Website wurden die User in Echtzeit darüber informiert, welches Team gerade in Ballbesitz war, Freistoß oder Eckball hatte oder welche Spieler Gelbe Karten bekamen. Wer bei dem Anbieter registriert war, konnte so beispielsweise darauf wetten, welches Team das nächste Tor erzielt. Und Treffer gab es auf dem Sportplatz an der Fährstraße viele zu sehen: Türkiye gewann die Begegnung mit 5:3.
"Bin schockiert, dass man online auf unser Spiel wetten kann"
Sogar noch ein Tor mehr wird einen Tag später im Duell zwischen dem ETSV und dem ETV fallen. Aber das kann Sascha "Jassi" Huremovic, Sportchef der Gastgeber, noch nicht wissen, als er eine Stunde vor Spielbeginn die Kameras für den Livestream der Partie auf den Traversen aufbaut. Das Equipment hat der Hamburger Fußball-Verband (HFV) gestellt. Alle Oberligisten sind seit dieser Serie verpflichtet, ihre Begegnungen live ins Internet zu übertragen. "Das ist doch eine gute Sache. Auch, um Manipulationsversuchen vorzubeugen", befindet Hakan Karadiken aus dem Management des ETSV.
Er und Huremovic wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass auch auf ihre Partie getippt werden kann. Konfrontiert damit, fallen beide aus allen Wolken. "Ich bin schockiert, dass man online auf unser Spiel wetten kann", sagt Huremovic: "Es beunruhigt mich sehr, dass mit unserem Hobby irgendwo in der Ferne Geld gemacht wird."
"Geld geboten, wenn sie das Spiel 'vergurken'"
Die Vereine stehen der Wettproblematik letztlich machtlos entgegen. Zwar müssen alle Oberliga-Spieler, -Trainer und -Funktionäre auf Geheiß des HFV Wettverbotsformulare unterschreiben. "Aber was jemand in seiner Privatzeit macht, kann ich nicht beurteilen", sagt Huremovic.
Der 55-Jährige ist schon lange im Amateurfußball-Geschäft dabei. Vor seinem Engagement beim ETSV war er beim Hamm United FC als Trainer und Manager tätig. Der Kontakt zum HUFC riss auch nach seinem Ausscheiden nicht ab. Und so hörte Huremovic auch davon, wie wohl versucht wurde, eine Partie des Clubs zu manipulieren. "Mir wurde erzählt, dass da jemand in die Kabine gekommen ist und richtig Kohle geboten hat. Zwei Spieler haben nach dem Spiel dann gesagt, dass ihnen Geld geboten wurde, wenn sie das Spiel 'vergurken'", berichtet der heutige ETSV-Sportchef.
Und auch Karadiken, der zuvor als Teammanger beim Regionalligisten Phönix Lübeck tätig war, hatte in der Vergangenheit hin und wieder während einiger Partien ein mulmiges Gefühl. "Es kamen mir ein paar Spiele schon komisch vor. Da schaust du auf das Ergebnis, eine Mannschaft führt mit 2:0 oder 3:0 und auf einmal werden die Dinger dann gedreht und solche Geschichten. Das ist schon traurig", sagt der sportverrückte Unternehmer.
Seltsame Quoten auf Spitzenspiel ETSV - Eimsbütteler TV
Karadiken und Huremovic schauen ein paar Minuten vor Beginn des Duells des ETSV mit dem ETV noch einmal ungläubig auf die Website einer der ausländischen Wettanbieter, der die Partie in seinem Programm hat. Die Quote auf einen Erfolg der Gastgeber beträgt lediglich 1,80 Euro, während inzwischen für einen Sieg Eimsbüttels fast sechs statt wie noch am Vortag drei Euro ausgelobt werden. "Das ist nicht sehr wertschätzend", witzelt ETV-Coach Can Schultz nach dem 5:4-Triumph seiner Equipe später.
"Es ist genau so, als wenn man eine Oma beklaut." ETSV-Coach Berkan Algan über Spielmanipulationen
Er kann sich die ungewohnt hohe Quote auf einen Erfolg seiner Mannschaft auch nicht erklären. Immerhin haben die Eimsbütteler in der Vorsaison noch in der Regionalliga gespielt und zählen wie der ETSV zu den Aufstiegskandidaten. Wurde etwa versucht, von außen auf den Ausgang der Begegnung Einfluss zu nehmen? Spekulativ. Fakt ist: Kurz nach Spielbeginn wurde die Partie zumindest bei den drei vom NDR beobachteten Wettanbietern aus dem Programm genommen. Die zuvor angekündigte Möglichkeit zur Livewette gab es ebenfalls nicht.
ETSV-Sportchef Huremovic: "Wundere mich über nichts mehr"
Den Wettanbietern dürfte so einiges an Geld entgangen sein, denn die Livewetten sind für sie das lukrativste Geschäft. "Ich habe mich früher auch mal bei einem Anbieter registrieren lassen, um für ein paar Euro Bundesliga-Spiele zu tippen. Und plötzlich werden dir da Spiele angezeigt, von denen du keine Ahnung hast, aber bei denen dir der schnelle Gewinn winkt. Da werden sicherlich viele verführt", sagt Huremovic.
Dem 55-Jährigen ist bewusst, dass nun wohl nur die Spitze des berühmten Eisbergs zum Vorschein gekommen ist. "Was jetzt gerade im Amateurfußball geschieht, passt eigentlich zum Weltgeschehen. Es ist alles auf den Kopf gestellt. Ich wundere mich über nichts mehr", sagt Huremovic. Beim ETSV will er mit eisernen Besen kehren, sollte es auch nur "ansatzweise einen Verdachtsmoment" geben: "Dann wird derjenige nicht mehr Teil unseres Teams sein."
In dieselbe Kerbe schlägt auch Coach Berkan Algan. Wer Spiele manipuliert, der solle mit der "härtesten Konsequenz" bestraft werden, so der Ex-Profi. Denn: "Das ist niederträchtig und eklig. Es ist genau so, als wenn man eine Oma beklaut."