Die HSV-Akteure Sebastian Schonlau (l.) und Miro Muheim diskutieren enttäuscht miteinander. © IMAGO / Eibner

HSV: Ein System droht zu implodieren

Stand: 09.12.2023 19:35 Uhr

Mit dem 1:2 gegen den SC Paderborn hat Fußball-Zweitligist HSV seine weiße Weste zu Hause eingebüßt. Es ist der neue Tiefpunkt einer Entwicklung, die das System von Trainer Tim Walter infrage stellt und die das Potenzial hat, die Stimmung zum Kippen zu bringen. Eine Analyse.

von Tobias Knaack

Bräuchte es ein Bild für die Harm-, Hilf- und Ideenlosigkeit des HSV im Dezember 2023, es wäre die Brustannahme von Paderborns Keeper Pelle Boevink am Sonnabend bei Paderborns Sieg im Volksparkstadion. In einer hohen Bogenlampe segelte ihm, ohne dass auch nur ein Hamburger in der Nähe gewesen wäre, der Ball entgegen. Ernstzunehmender Abschluss, geschweige denn Torgefahr? Fehlanzeige!

Abwärtstrend beim HSV seit Monaten

Stattdessen Brustannahme. Kurz vor Ende der Partie. Höchststrafe für die untauglichen und konzeptlosen Bemühungen der Hamburger, dieser Partie noch eine Wendung zu geben und die Heimsieg-Serie von sieben Erfolgen hintereinander auszubauen - oder wenigstens ein Remis zu holen. Die erneut gut 52.000 Zuschauenden im Volkspark quittierten die Szene mit einem entsetzten Raunen.

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Poevinks Brustannahme, sie ist Sinnbild für eine negative Entwicklung der Walter-Elf seit dem fünften Spieltag, die mit dem Ende der weißen Weste im Volkspark, der ersten Niederlage zu Hause seit 14 Monaten, ihren vorläufigen Tiefpunkt gefunden hat.

Hamburgern geht Konstanz ab

Das souveräne - und beinahe zu niedrig ausgefallene - 3:0 gegen Bundesliga-Absteiger Hertha BSC war die letzte durchgehend souveräne Partie der Hanseaten. Das war im August. Es war ein Spiel, das den Ansprüchen eines selbsternannten und auf eine Art auch selbstverständlichen Aufstiegskandidaten - zumal im sechsten Jahr - gerecht wurde. Dominant im Auftreten, stark im Pressing, konsequent im Abschluss: Es war ein Schritt zu mehr Seriosität. Im sechsten Anlauf, so schien es, könnte es mit dem ersehnten Aufstieg in die Bundesliga klappen.

Seither liegt der HSV - immerhin die beste Zweitliga-Auswärtsmannschaft der vergangenen Saison - aber auf fremden Plätzen komplett brach, hat gerade noch magere drei Punkte geholt. Die sieben Heimsiege aus sieben Spiele kaschierten die Abwärtsspirale, dabei ist seit Monaten offensichtlich: Die Hamburger haben - allen Heimsiegen und Punkten zum Trotz - keine Konstanz. Spätestens das schmucklose bis glückliche 2:1 gegen Eintracht Braunschweig hatte das eigentlich verdeutlicht.

Verlust des Heimnimbus ist neuer Tiefpunkt

Der Verlust des Heimnimbus am Sonnabend hat die Probleme nun endgültig schonungslos aufgezeigt. Diese Mannschaft, sofern man sie fußballerisch als solche bezeichnen kann, hat allen anderslautenden Beteuerungen zum Trotz keine Geschlossenheit, keinerlei gemeinsames Konzept.

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Die HSV-Akteure Miro Muheim, Torhüter Daniel Heuer Fernandes und Sebastian Schonlau (v.r.) sind enttäuscht, während im Hintergrund Paderborner Spieler einen Treffer bejubeln. © IMAGO / Nordphoto

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Vor allem funktioniert das Positionsspiel des Teams in Walter-Jahr drei nicht (mehr): Offensiv zeigt sich das in irrlichternden Laufwegen, unzureichend ausgespielten Umschaltsituationen und einem zusammenhanglosen Möchtegern-Pressing, das de facto keinerlei Druck auf den Gegner ausübt. Am anderen Ende ist - und das fängt in der Offensive an -, die gedankliche Trägheit augenfällig, zweite Bälle zu gewinnen.

Erstmals fehlte erkennbar der Wille

Das führt in der Konsequenz dazu, dass sich den Gegnern mit ein, zwei Pässen riesige Räume bieten. Das System wird endgültig dadurch entblößt, dass die Mannschaft in entscheidenden Duellen in aller Regelmäßigkeit den Kürzeren zieht.

Die Mannschaft ist im bisherigen Saisonverlauf wiederholt von Zwei-Tore-Rückständen zurückgekommen, sie hat die viel beschrieene "Mentalität" wiederholt bewiesen. Neu war gegen den SCP, dass diese bedingungslose Bereitschaft und Leidenschaft, eine Aufholjagd zu starten, nicht sichtbar wurde.

HSV lässt konstant Chancen liegen

Und so ist die Konstante der bisherigen Saison die Fahrlässigkeit, mit der Chancen nicht erkannt und ausgelassen werden. Ausgelassene Möglichkeiten, die dem HSV wehtun - im Kleinen in einzelnen Spielsituationen, im Großen im Gewinnen von Spielen.

Eine offensiv starke, aber defensiv instabile Mannschaft wie Paderborn nicht höher zu pressen und zu (weiteren als den ohnehin vielen) Fehlern zu zwingen, ist eine ausgelassene Chance. Gegen einen starken Spieler wie Herthas Fabian Reese keine Anpassungen vorzunehmen, ist eine ausgelassene Chance. Das mündet im Ausscheiden im Pokal - oder dem erstmaligen Federnlassen zu Hause in der Liga.

Die bedingungslose Unterstützung bröckelt

Die negative Entwicklung aber geht weit über die Leistungen auf dem Feld hinaus. Walter und Manager Jonas Boldt ist anzurechnen, dass sie es in den vergangenen Jahren geschafft haben, ein Band zwischen Mannschaft, Verein und Fans zu schaffen. Doch das Band droht zu reißen.

Hatte die Kurve nach dem leichtfertig hergeschenkten Weiterkommen im Pokal in Berlin am Mittwoch schon keine bedingungslose Aufmunterung mehr gezeigt, war dies gegen Paderborn nach dem 1:2 im Volkspark deutlich zu spüren. Der Rückhalt, er bröckelt. Pfiffe gab es nicht, sehr wohl aber wachsende Zurückhaltung und Skepsis.

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In einer derart engen und ausgeglichenen Zweiten Liga sind die Unfähigkeit oder der Unwille, sich auf Gegner und ein sich situativ entwickelndes Spiel einzustellen, verhängnisvoll - und werden absehbar zum erneuten Verfehlen der selbst gesteckten Ziele führen.

Statistik des Mittelmaßes

Der Frust mit den zusammenhanglos wirkenden Auftritten der Mannschaft, er steigt. Das Spiel des HSV, es stand in den vergangen Jahren oftmals für Spektakel - Gegentore und Rückschläge eingepreist. Doch das Spektakel, es ist passé: Nach dem Liga-Spiel gegen die Hertha im August hatte der HSV nach fünf Partien 13:5 Tore, die Bilanz aus den zurückliegenden elf Partien: 18:17 Tore. Eine Statistik, die eines Aufstiegskandidaten nicht würdig ist.

Nun mag die Saison noch lang sein, der Zustand des HSV im Dezember ist aber alarmierend, denn jenseits des Sportlichen droht gerade etwas wegzubrechen, das durchaus zurecht in den vergangenen zwei Jahren als Faustpfand verstanden wurde: das Band Trainer-Mannschaft-Fans.

Richtungsweisendes Spiel in Nürnberg

Und so droht das System, das die Hamburger in den vergangenen Jahren mühevoll aufgebaut haben, im Dezember 2023 zu implodieren. Auf dem Platz und außerhalb. Wie unruhig das Weihnachtsfest im schwarz-weiß-blauen Teil der Hansestadt wird, hängt davon ab, wie die Mannschaft das Spiel zum Jahresausklang am kommenden Sonnabend in Nürnberg gestaltet (13 Uhr, im NDR Livecenter) - aber auch davon, was die Konkurrenz macht und wie groß der Rückstand sein wird.

Und diese Abhängigkeit, das war das Versprechen, sie sollte im Walter-System des dogmatischen Bei-sich-Bleibens und Selbstbestimmens eigentlich kein Faktor sein.

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Dieses Thema im Programm:

Sport aktuell | 09.12.2023 | 15:17 Uhr

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