Nobelpreisträger Muratow: Propaganda ist "Koch des Krieges"
Zum Tag der Pressefreiheit äußert sich der Chefredakteur der kremlkritischen Zeitung "Nowaja Gaseta", Dmitrij Muratow, zur Lage der Medien in Russland. Die staatliche Propaganda sei der "Koch des Krieges".
Jahrelang tagte die Redaktion der "Nowaja Gaseta" unter den schwarz-weiß Fotos ihrer ermordeten Kolleginnen und Kollegen, auch unter einem Foto der 2006 erschossenen Anna Politkowskaja. Die kremlkritische russische Zeitung berichtete immer weiter: über Machtmissbrauch und Korruption, auch und gerade ganz oben. Nun ist es der russische Krieg gegen die Ukraine, der Chefredakteur und Friedensnobelpreisträger Dmitrij Muratow umtreibt.
"Nowaja Gaseta" kann in Russland nicht mehr berichten
In einer Videobotschaft zum Tag der Pressefreiheit, die er für den NDR aufgenommen hat, fragt Muratow: "Wie sind wir dahin gekommen - eine zerstörte Zukunft, zerstörte Städte? Ein nicht enden wollender Auszug Flüchtender? Mittlerweile sind schon zwölf Millionen Menschen auf der Flucht. Wie kamen wir zu diesen endlosen Exhumierungen von Leichen ukrainischer Zivilisten?"
Ausgerechnet jetzt kann die "Nowaja Gaseta" in Russland nicht weiter berichten. Die neuen Zensurgesetze, die im Zuge des Krieges eingeführt wurden, machen das unmöglich. Das Vorgehen des Kremls gegen unabhängige Medien und der Krieg sind für Muratow unmittelbar miteinander verknüpft.
Dmitri Muratow: Zeuge der "Bestrahlung mit Propaganda"
"Ich bin Zeuge davon, wie ein ganzes Volk, unser Volk, im 21. Jahrhundert einem geglückten Experiment unterzogen wurde: Der Bestrahlung mit Propaganda", sagt der Journalist. "In Abwesenheit unabhängiger Medien beginnt die Propaganda immer, einen Krieg vorzubereiten. Propaganda ist der Koch des Krieges. Propaganda ist der Krieg selbst."
Und die Propaganda läuft in Russland derzeit auf Hochtouren, vor allem im Staatsfernsehen, das für die große Mehrheit der Menschen immer noch die Haupt-Informationsquelle ist. Die Strategie des Kremls scheint aufzugehen, sagt die russische Kommunikationswissenschaftlerin Anna Litvinenko, die an der Freien Universität in Berlin lehrt: "Wie viele andere Kommunikationswissenschaftler war ich selbst sehr überrascht, dass es möglich ist, eine Öffentlichkeit, die eigentlich immer diese Insel der Pressefreiheit hatte, auf diese Weise gleichzuschalten."
Propaganda in Russland: Zwei geschichtliche Narrative werden für Feindbilder benutzt
In Beiträgen, Moderationen und Talkshows im Staatsfernsehen ist immer wieder die Rede von den "Radikalen in Kiew" und davon, dass eine Denazifizierung und Entmilitarisierung der Ukraine nötig sei. Und dem Land wird sogar das Existenzrecht als richtiger Staat abgesprochen. Dahinter stecke eine jahrelange Propaganda-Strategie, so Litvinenko.
"Es gibt zwei geschichtliche Ereignisse, die seit Jahren konsequent durch Putins Regime instrumentalisiert werden", so die Kommunikationswissenschaftlerin. "Zum einen der Zweite Weltkrieg mit dem Sieg am Ende, wo die ganzen Narrative zur Entnazifizierung und Entmilitarisierung herkommen, und zum anderen der Zerfall der Sowjetunion. Beide Ereignisse werden benutzt, um Feindbilder zu schaffen."
Auswirkungen von Propaganda: Fast immun gegen andere Informationen
Wer über Jahre hinweg Propaganda ausgesetzt sei, der werde irgendwann fast immun gegen andere Informationen. Man höre auf, sie zu suchen und anzunehmen, so Litvinenko. "Ich beobachte da einen psychologischen Schutzmechanismus, wodurch die Menschen sich einfach weigern, hinzuschauen oder Information aufzunehmen, die ihre Welt zusammenbrechen lassen würden."
Für die Pressefreiheit in Russland sehe es derzeit düster aus, sagt Litvinenko. Denn Medien wie die "Nowaja Gaseta" hatten zwar ein kleines Publikum, aber deren Leser gehörten zur intellektuellen Elite des Landes, von der Wandel ausgehe könne.
Muratows Prognose: "jahrzehntelanger Zustand der Feindseligkeit"
Der Chefredakteur der "Nowaja Gaseta" rechnet damit, dass der Krieg und die Propaganda Russland in einen "jahrzehntelangen Zustand der Feindseligkeit" mit der Ukraine und weiten Teilen der Welt versetzten. Muratow wird nun Mitte Mai seine Medaille, die er zum Friedensnobelpreis erhielt, versteigern - zugunsten von Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen sind. Für ihn sei es eine Sache, die er tun kann, damit er sich nicht vollkommen hilflos fühle.