Weibliche Genitalverstümmelung: 3.000 Betroffene in SH

Stand: 26.07.2023 10:31 Uhr

Terre des femmes schätzt, dass in Schleswig-Holstein rund 3.000 Frauen und Mädchen leben, die an ihren Genitalien verstümmelt wurden. Die Fachstelle Tabu der Diakonie Altholstein in Kiel ist die einzige Anlaufstelle im Land für Betroffene.

von Lisa Pandelaki

Safaa Osmon sitzt im Beratungsraum der Diakonie Altholstein in Kiel Gaarden und knetet nervös ihre Hände. Sie war sich erst nicht sicher, ob sie wirklich kommen soll, rief vorher ein paar Mal an, bevor sie sich tatsächlich auf den Weg machte. Doch als sie anfängt zu erzählen, spricht sie klar und findet deutliche Worte für das, was ihr passiert ist. "Ich war acht Jahre alt, aber ich kann das nicht vergessen", erzählt die 36-Jährige von ihrer Kindheit im Sudan.

"Ich war mit meinen Cousinen am Spielen und dann kamen zwei fremde Frauen zu mir und haben mich mit in ein Zimmer genommen." Dort muss sie zusehen, wie die beiden Frauen ihre ältere Schwester auf den Boden drücken und festhalten. Sie spreizen ihre Beine und schneiden Klitoris, innere und äußere Vulvalippen ab und nähen sie zusammen. Es bleibt nur ein kleines Loch für Urin. Eine Betäubung gibt es nicht. "Meine Schwester hat laut geschrien und geblutet und ich hab das alles gesehen." Dann ist Safaa dran.

Die Wunden verheilen, das Trauma bleibt

Safaa Osmon sitzt in der Fachstelle Tabu und lächelt. © NDR
Safaa hilft der Diakonie Altholstein, das Thema weibliche Genitalverstümmelung in afrikanischen Communities anzusprechen.

Sie schreit und wehrt sich, aber hat keine Chance. Ihre Mutter ist die ganze Zeit mit im Raum. "Unsere Eltern haben uns doll geliebt", versichert Safaa. "Sie haben gedacht, die Mädchen wären so [durch die Beschneidung und das Zusammennähen, Anm. d. Redaktion] geschützt vor anderen Jungs." Safaas Augen schimmern feucht, während sie sich an den Tag erinnert, den sie nie vergessen wird. Ihre Mundwinkel zucken immer wieder nach unten. Doch sie behält die Fassung. Sie ist stark.

Die Wunden zwischen Safaas Beinen verheilen irgendwann. Das Trauma bleibt bestehen. Und schon einfachste alltägliche Verrichtungen erinnern sie Tag für Tag daran, was ihr angetan wurde: Fahrradfahren kann sie nicht mehr, schnell rennen und hüpfen auch nicht. Wasserlassen geht nur in einem dünnen Strahl. Langes Sitzen ist unmöglich.  

Zahl der Genitalverstümmelungen in Deutschland stark gestiegen

Seit tausenden Jahren wird die weibliche Genitalverstümmelung rituell in vielen afrikanischen, arabischen und asiatischen Ländern durchgeführt. Manchmal direkt nach der Geburt, manchmal erst im Alter weniger Jahre, vor dem Erreichen der Pubertät. Oft kommen sogenannte "Beschneiderinnen" vorbei, um das brutale Ritual mit Messern oder Rasierklingen durchzuführen. Eine Betäubung gibt es nicht.

Eine Weltkarte zeigt die Häufigkeit von weiblicher Genitalverstümmelung in den einzelnen Ländern. © NDR
Weibliche Genitalverstümmelung ist ein globales Thema.

Viele Mädchen sterben an den Folgen. Begründet ist das Ritual in patriarchalen Strukturen, Macht über die Frau und ihre Sexualität zu behalten, in vermeintlichen hygienischen und gesundheitlichen Vorteilen, zu bewahrender Jungfernschaft oder in dem gängigen Schönheitsideal. Manchmal findet die Verstümmelung im Geheimen statt, manchmal in Kliniken. Die WHO schätzt, dass aktuell weltweit rund 200 Millionen Mädchen und Frauen mit Beschneidung leben.

In Deutschland ist die Zahl weiblicher Genitalverstümmelungen nach Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen UNICEF zwischen 2017 und 2020 um 40 Prozent gestiegen. In Schleswig-Holstein leben laut Dunkelzifferschätzung von Terre des femmes über 3.000 Frauen mit Genitalverstümmelung. 460 Mädchen gelten als gefährdet. Dabei handelt es sich nicht um eine homogene Gruppe, sondern umfasst Frauen und Mädchen aus unterschiedlichen Ethnien, Kulturen, Religionen und Sprachen. Eine Herausforderung für die Fachstelle Tabu der Diakonie Altholstein, die einzige Fachstelle in Schleswig-Holstein, die sich seit 2018 genau mit diesem Thema befasst. "Im Grunde ist es so, dass wir hier erst einmal einen geschützten Dialograum öffnen", erzählt Projektleiterin Renate Sticke. Es gibt Gruppentreffen, Einzelgespräche und Aktionstage. Tabu möchte die Frauen begleiten, dass sie ihren Weg selbstbestimmt gehen können - wie Safaa.

Rekonstruktion ist nicht einfach

2003 kommt sie nach Deutschland. Ein Jahr später kommt das erste ihrer drei Kinder auf die Welt. Für die Geburt wird Safaas Naht ein Stück aufgetrennt. Danach wird sie wieder zugenäht. Alles andere wäre zu kompliziert, sagt Safaa. Das zeigt auch ein erster fehlgeschlagener Wiederherstellungsversuch in einer Klinik in Berlin. Doch Safaa möchte nicht aufgeben. "Ich habe Leid gesehen in meinem Leben", erzählt sie.

Renate Sticke im Gespräch mit einer Klientin. © NDR
Renate Sticke ist Projektleiterin der Fachstelle Tabu, die sich mit weiblicher Genitalverstümmelung in Schleswig-Holstein beschäftigt.

Sie habe Schmerzen beim Geschlechtsverkehr mit ihrem Mann, Schmerzen beim Wasserlassen, Schmerzen während ihrer Periode. Dazu kommt die Andersartigkeit: "Ich möchte normal aussehen, wie die anderen Frauen." Durch Recherche im Internet stößt Safaa auf die Fachstelle Tabu. Sie erfährt, dass hier vor allem beschnittenen Frauen geholfen wird und nimmt Kontakt auf. Über die Jahre ist eine richtige Freundschaft entstanden. "Renate hat mich ganz viel unterstützt. Nicht nur mit der OP, auch mit vielen anderen Sachen. Sie war immer neben mir."

Durch die Beratungsstelle erfährt Safaa von einer Fachklinik in Aachen, die führend auf dem Gebiet der rekonstruktiven Operationen ist. Im vergangenen Juni wird Safaas Vulva in Aachen in einer sechsstündigen Operation so weit wiederhergestellt, wie es geht. Rein medizinisch ist die Operation gut verlaufen. Doch auch wenn Safaa optisch wieder "normal" aussieht, die Wiederherstellung kann ihr nicht alles zurückgeben, was ihr genommen wurde.

Eine der Folgen: Soziale Isolation

"Die Folgen sind für die Frauen sehr massiv. Wir haben psychische, physische und soziale Folgen", sagt Sticke. Zu dem körperlichen Trauma, das den Alltag Betroffener stark beeinträchtigt, hinterlässt die Tat, das gewaltsame Festhalten, ein psychisches Trauma. "Dass es ihre Beziehungspersonen sind, die sie da halten. Dass es die Eltern sind, dass es die Mutter ist, die das Ganze auch zulässt. Das bedeutet auch, dass die Frauen auf der Beziehungsebene oft Probleme haben."

Ein Illustration zeigt verschiedene Arten der weiblichen Genitalverstümmelung. © NDR
Die WHO unterscheidet vier Typen der weiblichen Genitalverstümmelung.

Beispielsweise haben betroffene Frauen oft Probleme Freundschaften zu pflegen, anderen zu vertrauen, konkretisiert Sticke. "Die Folge, die wir hier in Schleswig-Holstein sehen, ist die Isolation. Dass sie nicht zu einem Deutschkurs gehen können, weil sie nicht lange genug sitzen können." Während der Periode müssen zugenähte Frauen außerdem viel laufen, damit das Blut abfließen kann. Um damit nicht anzuecken, hören viele Frauen laut Sticke auf, eine Ausbildung zu machen und das führt zu weiterer Isolation. "Die gesellschaftliche Teilhabe ist dann auch eingeschränkt"

Schulung von Fachkräften

Ein weiterer Arbeitsschwerpunkt von Tabu ist deshalb die Schulung von Fachkräften. Es geht darum, an Stellen, an denen Berührungspunkte mit Betroffenen bestehen, zu sensibilisieren. Fachkräfte in der Flüchtlings- und Asylarbeit, Netzwerke zur Hilfe bei häuslicher Gewalt, Frauenberatungsstellen, Ärzte und medizinisches Personal, Schulen und Kitas. "Alle, die Fragen haben, können sich auf kurzem Weg bei uns melden", lädt Sticke ein. Die Arbeit von Tabu soll auch sensibilisieren, die richtigen Begriffe zu nutzen und die Frauen positiv anzusprechen. "Sie sind Überlebende einer Straftat, einer Menschenrechtsverletzung. Aber sie sind nicht nur Opfer."

Die Arbeit von Tabu reicht in viele Bereiche hinein. Die Anfragen nehmen von Jahr zu Jahr zu. Die Finanzierung ist trotzdem zu einem großen Teil nur projektbasiert und zeitlich begrenzt. Die langfristige Perspektive fehlt. Die aktuelle Bundesfinanzierung ist bis Ende des Jahres befristet. Das Land Schleswig-Holstein beteiligt sich bislang nicht an der finanziellen Förderung der Fachstelle.

Wandel muss aus den Communities kommen

Neben dem Opferschutz geht es hier auch um Prävention. Und etwas verhindern wollen, worüber niemand spricht, ist absolut nicht einfach. "Es ist immer eine reale Gefahr da", sagt Sticke auf die Frage nach der akuten Bedrohung für die 460 Mädchen aus der Dunkelzifferschätzung von Terre des femmes. "Wir sind eigentlich sicher, dass die Familien nicht in die Heimatländern müssen. Es leben auch Beschneiderinnen hier im direkten europäischen Umland. Ich habe auch mit einer Kollegin gesprochen, da war eine Beschneiderin auch hier nach Schleswig-Holstein gekommen." Prävention müsse demnach durch einen Wandel aus der Community heraus passieren. Gesetze allein reichen da nicht, ist sich Sticke sicher. Es gehe immer darum, die Frauen in gemeinsamen Aktionen miteinzubinden. "Wir haben durch die Frauen, die hier sind, Multiplikatorinnen."

Eine halbierte Grapefruit ist mit einem schwarzen Faden lose vernäht. © NDR Foto: Lisa Pandelaki
AUDIO: Auch in SH ein Thema: Weibliche Genitalverstümmelung (4 Min)

Safaa bricht das Tabu

Safaa ist eine davon. Sie bringt den Mut auf, das Tabu zu brechen. Sie spricht offen über das, was ihr passiert ist. Denn sie will dazu beitragen, dass kein Mädchen mehr dieses Leid über sich ergehen lassen muss, durch das sie gegangen ist. Angefangen bei ihrer eigenen Tochter. "Wenn ich in meine Heimat fahre, sagen die älteren Frauen, sie muss beschnitten werden. Sie MUSS beschnitten werden." Ein paar Mal war sie mit ihrer Tochter bereits im Sudan. "Ich höre nicht, was sie sagen. Ich beschütze sie (die Tochter), weil das ist das schlimmste, was man Mädchen antun kann. Die Frau bleibt ohne Gefühl. Wie ein Stein." Sie ergänzt: "Das ist ein großer Fehler, was die machen."

Damit es aufhört

So wie die grausame Tradition von Generation an Generation weitergegeben wurde, so hoffen die Mitarbeiter von Tabu, dass auch der Bruch mit dieser von Frauen wie Safaa weitergegeben wird. Von der Mutter an die Schwester, die Schwägerin, die Cousine, an die Tochter, die Nichten, die Enkel. Als nächstes plant die Fachstelle gezielt auf Männer zuzugehen, um auch sie davon zu überzeugen, mit der Verstümmelung zu brechen. Bis es soweit ist, wird das Tabu-Team weiter machen und um jedes Mädchen und jede Frau kämpfen. Sie werden Frauen begleiten, Fachkräfte schulen, Umfelder sensibilisieren, Augen öffnen. Damit es aufhört.

Hier finden betroffene und gefährdete Mädchen und Frauen Hilfe:
Diakonie Altholstein - Fachstelle Tabu
www.tabu-sh.de
Tel.: 0431 260 931 19
Email: tabu@diakonie-altholstein.de

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 26.07.2023 | 19:30 Uhr

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