Sexualisierte Gewalt bei christlichen Pfadfindern in Kiel
In den 1990er-Jahren soll ein Mitarbeiter der Kirchengemeinde Jugendliche belästigt und gegen ihren Willen berührt haben. Kirchenkreis und Gemeinde wollen Anzeige erstatten und suchen nach Zeugen.
In den 90er-Jahren hat es im Kieler Stadtteil Pries offenbar Fälle von sexualisierter Gewalt bei den christlichen Pfadfindern gegeben. Die "Kieler Nachrichten" hatten zuerst darüber berichtet. Der Pressesprecher des Kirchenkreises Altholstein sagte, dass erste eigene Nachforschungen den Verdacht bestätigt hätten. Offenbar waren die Fälle bereits vor fast 30 Jahren den damaligen Pastoren gemeldet. Die jetzige Leitung des Kirchenkreises Altholstein hat nach eigenen Angaben erst vor kurzem von den Vorfällen erfahren. Laut Pastorin Anna Benkiser-Eklund aus der Kompass-Kirchengemeinde, zu der Pries-Friedrichsort gehört, war bei leitenden Pfadfinderinnen und Pfadfindern eine anonyme E-Mail dazu eingegangen.
Mitarbeiter arbeitete als Jugendwart
"Wir konnten bisher rekonstruieren, dass sich der Beschuldigte seit 1985 in unserer Jugendarbeit engagiert hat, zunächst als Honorarkraft in der Kirchengemeinde und später als festangestellter Jugendwart beim damaligen Kirchenkreis Kiel", sagte Pröpstin Almut Witt. In dieser Position baute der Mann offenbar ein besonderes Vertrauensverhältnis zu Jugendlichen aus prekären Verhältnissen auf. "Und dieses hat er für sich genutzt und die Jugendlichen ausgenutzt", berichtet Witt.
Nach Angaben von Pastorin Anna Benkiser-Eklund soll der Beschuldigte auf einem Freizeitlager des Pfadfinderstammes St. Michael Jugendliche in ihrem Schlafsack belästigt und gegen ihren Willen berührt haben. "Aber wir müssen damit rechnen, dass auch Dinge passiert sind, die darüber hinausgegangen sind", so die Pastorin. Fraglich sei auch, ob der Suizid eines Pfadfinders damals in Verbindung mit sexualisierter Gewalt stand. Hier widersprechen sich die Aussagen.
Beschuldigter musste Gemeinde verlassen - wurde aber nicht angezeigt
Klar ist, dass der Mitarbeiter die Gemeinde Ende 1997 verlassen musste. Damals hatten sich laut Witt offenbar betroffene Jugendliche an die Kirchengemeinde und den Kirchenkreis gewandt. So wurden die Taten bekannt. Neben seiner Entlassung sollte der beschuldigte Mitarbeiter aus dem Stadtteil wegziehen und eine Therapie machen. Er wohnt laut dem Kirchenkreis mittlerweile in Kiel und arbeitet nicht mehr für die Kirche. Bestritten habe er die ihm damals vorgeworfenen Übergriffe nicht - eine Strafanzeige wurde allerdings nicht gestellt. "Angeblich auf Wunsch der Betroffenen", sagte Pröpstin Witt. "Wir können heute nicht ausschließen, dass dabei Druck auf die Jugendlichen ausgeübt wurde."
Pröpstin: "Nehmen Betroffene ernst"
Die Kirchengemeinde und der Kirchenkreis wollen nach eigenen Angaben jetzt Anzeige gegen den Beschuldigten erstatten. Dafür suchen sie gemeinsam mit den Pfadfindern nach Zeuginnen und Zeugen. Zuallererst wolle man jedoch den möglichen Betroffenen zuhören. Witt sicherte ihnen im Namen von Pfadfindern, Kirchengemeinde und Kirchenkreis ihre Unterstützung zu. "Wir nehmen sie ernst und wir möchten ihnen helfen", betonte sie.
Der Verband Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP) unterstützt die Pfadfinder in Pries-Friedrichsort. "Wir informieren Eltern und Mitglieder und wir wollen an einem Abend allen die Möglichkeit geben, Fragen zu stellen", kündigt die Vorsitzende Jessica Schlottke an. Der Verband habe ohnehin Anfang des Jahres zwei unabhängige Forschungsinstitute beauftragt, mögliche Fälle von sexualisierter Gewalt bundesweit aufzuarbeiten.
Im Februar zeigten Untersuchungen des Münchner Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) und des Berliner "Dissens - Institut für Bildung und Forschung" - im Auftrag des Bunds der Pfadfinderinnen und Pfadfinder (BdP) - dass es von 1976 bis 2006 im BdP in Deutschland mindestens 103 Betroffene sexualisierter Gewalt gegeben hat. Die meisten der Taten fanden in den 1980er- und 1990er-Jahren statt.
Hier können sich Zeugen und Betroffene melden:
- Meldestelle des Ev.-Kirchenkreises Altholstein, Pastor Lars Palme, 0157 78873527, lars.palme@altholstein.de
- UNA - Unabhängige Ansprechstelle bei sexualisierter Gewalt in der Nordkirche, 0800 0 22 00 99, una@wendepunkt-ev.de
- Vertrauenspersonen des VCP Schleswig-Holstein unter www.vcp.sh
- Präventionsbeauftragte des VCP, Louisa Kreuzheck, louisa.kreuzheck@vcp.de
- Institut für Praxisforschung und Projektberatung, 089 546 59 77 0, aufruf-vcp@ipp-muenchen (wissenschaftliche Aufarbeitung)