"Northern Coasts": Manöver im Zeichen der russischen Bedrohung
Mit der Übung "Northern Coasts" proben Marineschiffe aus neun NATO-Staaten auf der Ostsee den Ernstfall - und sie stoßen prompt auf die russische Marine. Eine junge Kielerin ist Offizierin auf dem Führungsschiff.
Es ist kurz vor Sonnenaufgang. Noch liegt Dunst über dem Wasser. Das Grau im Osten färbt sich langsam rot, dann orange. Kim hat Wache auf der Brücke. Sie ist eine junge Offizierin auf dem Kieler Tender "Rhein". Ihr Nachname soll hier nicht bekannt werden. Immer wieder tritt sie mit dem Fernglas an die Fenster, um sich einen Überblick zu verschaffen. Noch ist nicht viel zu sehen. Aber dann entdeckt Kim auf dem Radarschirm zwei hellgrüne Flecken. Es ist das Radarecho des russischen Versorgungsschiffs "Vizeadmiral Paramow" und des Hochseeschleppers "Jewgenij Churow". Beide Schiffe gehören zur russischen Marine. Das verändert alles.
Sorge vor russischer Spionage auf See
Während die beiden russischen Schiffe mit sieben Knoten Fahrt durch den Fehmarnbelt in Richtung Osten fahren, informiert Kim ihren Kommandanten. Der berät sich mit dem Kommandeur des NATO-Verbandes. Dann kommt die Entscheidung: Der Tender "Rhein" verlässt den Manöververband und fährt mit Volldampf bis auf zwei Seemeilen an die russischen Schiffe heran. Über den Bordlautsprecher kommt die Durchsage: "Alle Mobilfunkgeräte sind auszuschalten." Ein Nachrichtenoffizier erklärt uns, dass selbst eigentlich harmlose Schiffe wie Schlepper und Versorger mit modernster Aufklärungstechnik ausgestattet sind. "Die können eine Mobilfunkzelle auf See spiegeln." Das bedeutet, sie simulieren ein Mobilfunknetz und können so die Daten aller Mobiltelefone im Umkreis auslesen und zu Spionagezwecken nutzen.
Man kennt sich, man provoziert sich
Was dann auf der Brücke passiert, dürfen wir nicht mit der Kamera drehen, um die Soldaten zu schützen, die jetzt hier mit großen Objektiven "Aufklärungsarbeit" leisten, wie es bei der Bundeswehr heißt. Jedes Detail der russischen Schiffe wird dann später nachrichtendienstlich ausgewertet: Haben die Russen neue Antennen, die auf neue Aufklärungstechnik hindeuten? Gibt es Vorrichtungen an Deck, die auf ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge hindeuten? Gleichzeitig lesen die Sensoren der "Rhein" die elektromagnetischen Signale der russischen Schiffe aus. "Wenn Sie so wollen, ergänzen wir damit unsere Datenbanken", sagt Kurt Leonards. Er kommandiert den NATO-Verband beim Manöver "Northern Coasts". "Natürlich stehen bei den Russen auch Leute an Deck und fotografieren uns." Das sei ein Standardverfahren. Aber die Anspannung ist nicht zu leugnen. Flieger berichten uns, dass russische Schiffe ihr Feuerleitradar auf sie richten und ihre Bordgeschütze bemannen, wenn sie vorbeifliegen. Man kennt sich, man provoziert sich, und hält doch ausreichend Abstand um nicht zu eskalieren. Nach zwei Stunden dreht der Tender "Rhein" ab und kehrt zum Verband zurück.
Soldatin aus Überzeugung
Kim hat sich 2016 ganz bewusst entschieden, zur Marine zu gehen. "Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen kitschig. Aber ich möchte unsere Werte in der Welt vertreten." In einem Verband mit anderen NATO-Schiffen zu fahren gibt ihr ein gutes Gefühl. "Gerade jetzt finde ich es gut, wenn wir uns nicht verkriechen, sondern rausfahren und auch ein Zeichen setzen." Aktuell ist sie Oberleutnant zur See. Für sie ist das Manöver eine Chance, sich weiter zu qualifizieren, um irgendwann den Tender eigenverantwortlich fahren zu können.
Bedrohungsgefühl der Balten
Später am Tag fährt der NATO-Verband durch ein simuliertes Minenfeld vor Schöneberg. Sehr langsam arbeiten die Schiffe sich vor. Minen legen, Minen räumen, Konvoi durch freigeräumte Korridore fahren. All das bringen die NATO-Marinen einander wieder bei. Landes- und Bündnisverteidigung ist jetzt der Fokus. Kurt Leonards zieht sich schweres Ölzeug und einen Helm an und lässt sich mit einem Beiboot von dem Tender zu dem litauischen Minenjagdboot "Kursis" übersetzen. Immer wieder besucht er die Kommandanten der anderen Marineschiffe. "Force Cohesion" will er damit erreichen, also Zusammenhalt der Streitkräfte. "Gerade in den baltischen Staaten ist das Bedrohungsgefühl sehr viel größer geworden, seit Russland die Ukraine überfallen hat."
Gestörte Signale, analoge Kommunikation
Nach einer sehr schaukeligen Überfahrt klettert Kurt Leonhards an Bord der "Kursis". Der Kommandant Vytautas Drejeris berichtet, wie sich die Lage in der östlichen Ostsee verändert hat. "Es ist schwer zu fassen, wer wirklich dafür verantwortlich ist. Aber wir erleben immer wieder, wie GPS-Signale gestört werden und Fake-Funksprüche ankommen." Auch deshalb üben die NATO-Schiffe analoge Kommunikation. Mit Licht- und Flaggensignalen.
Auch für Kim geht das Manöver mit einer analogen Übung zu Ende. "Postbeutel" nennt sich das. Langsam dirigiert sie den Tender "Rhein" an die polnische Fregatte "General Pulaski" heran. So, dass die Polen mit einer Leinenverbindung im Notfall Medizin, Ersatzteile oder Geheimbefehle übermitteln könnten. "Das kann niemand abhören." Kim strahlt. Mit Ende 20 in Zeiten von Cyberwar übt sie uralte seemännische Verfahren. Das ist das neue Normal in der Ostsee.