Messerattacke in Brokstedt: Der Vater eines Opfers erzählt
Michael Kyrath hat bei der Messerattacke von Brokstedt seine Tochter verloren. Im Interview mit NDR Schleswig-Holstein erzählt er, wie die Tat sein Leben verändert hat und was er sich für die Aufarbeitung wünscht.
NDR Schleswig-Holstein: Herr Kyrath, wie geht es Ihnen?
Michael Kyrath: Es gibt bessere Tage, es gibt auch weniger gute. Morgens bin ich immer mit Ann-Marie zusammen in die Firma gefahren, sie hat noch eine halbe Stunde da gesungen und mit dem Handy gespielt, bis sie dann zum Bahnhof losgegangen ist. Wenn ich heute morgens allein reinkomme, ist es sehr einsam, sehr ruhig.
NDR: Wer war Ann-Marie?
Kyrath: Ann-Marie war ein sehr aufgeschlossenes, lernwilliges, immer fröhliches junges Mädchen. Sie ist auf jeden offen zugegangen. In der Schule nannte man sie lustigerweise "Die kleine Drogerie", denn wenn irgendjemand etwas brauchte, hatte Ann-Marie das in ihrer Handtasche. Und sie war natürlich in ihrer Erscheinung auch jemand ganz Besonderes. Sie war Fan der 50er-60er-Jahre, fand Audrey Hepburn und Grace Kelly toll und so zog sie sich auch an. Sie hat das mit einem Stolz und einer Selbstverständlichkeit getragen, dass das jeder akzeptiert hat, ohne Wenn und Aber.
NDR: Wie haben Sie diesen Tag erlebt, den 25. Januar?
Kyrath: Bis zum Nachmittag eigentlich normal. Als Ann-Marie nicht wie verabredet aus der Schule kam, fingen wir an, uns Sorgen zu machen. Wir haben dann versucht, sie zu erreichen, haben in der Schule angerufen, aber da hieß es, Ann-Marie sei ganz normal nach Hause gefahren. Wir haben dann überlegt, ob sie vielleicht mit ihrem Freund in Brokstedt ausgestiegen ist und haben angefangen, Freunde und Bekannte von ihr abzutelefonieren. Ein enger Freund von Ann-Marie sagte dann, er musste auf dem Weg nach Neumünster umkehren, weil es in Brokstedt ein Attentat gegeben habe. Ich habe mich dann ins Auto gesetzt und bin zur Einsatzstelle gefahren, wo ich einer jungen Polizistin in die Arme lief, die sagte: Das wird schon nicht so schlimm sein, vielleicht hat sie ihr Handy bei der Flucht verloren. Und eigentlich war mir in dem Moment klar, dass das nichts Gutes bedeutet. Ann-Marie hätte irgendwo geklingelt, hätte jemanden angesprochen, ob sie telefonieren darf und hätte mich oder ihre Mutter angerufen. Und dann kam ein sehr freundlicher junger Kripobeamte, der mich dann in die Bahnhofsgaststätte hineinbegleitete, mir einige Fragen zu Ann-Marie stellte und mir daraufhin eröffnete, dass eines der Todesopfer meine Tochter wäre.
NDR: Was ging da in Ihnen vor?
Kyrath: Man fällt eigentlich in dem Moment rückwärts in eine Leere, in ein großes Loch. Ich weiß auch nicht mehr so viel. Ich bin mehrfach gefragt worden, ob mich jemand nach Hause bringen soll. Das habe ich verneint, ich wollte allein sein. Ich habe mich dann ins Auto gesetzt und bin wieder Hause gefahren. Als ich hier ankam, waren schon die Polizei und eine Seelsorgerin da, meine Frau wusste es schon. Ab da ist erstmal für zwei, drei Tage alles in einem Nebel verschwunden.
NDR: Konnten sie ihre Tochter noch einmal sehen?
Kyrath: Vier Tage vor der Beerdigung waren wir am Beerdigungsinstitut. Sie haben Ann-Marie wunderschön aufgebahrt, in ihrem blauen Kleid, hatten ihr weiße Handschuhe angezogen, die so zum Herz gefaltet waren und hatten ihr einen Hut übers Gesicht gelegt. Es war für uns auch wichtig, dass sowohl unser Pfarrer dabei war als auch eine Pastorin, die eine enge Freundin der Familie ist. Und wenn man sein Kind dann das letzte Mal streichelt und sie ist eiskalt, das sind Dinge, die wünscht man seinem ärgsten Feind nicht.
NDR: Was hat Ihnen Kraft gegeben?
Kyrath: Wir haben einen fantastischen Freundeskreis. Die waren noch am selben Abend hier und in den darauffolgenden Wochen haben sie sich abgesprochen, wer wann einkaufen geht, wer kocht. Wir haben hier zusammengesessen, gelacht, geweint, in Erinnerungen geschwelgt. Das Haus war rund um die Uhr immer voll, das hat uns sehr geholfen. Ich glaube, wenn wir hier allein gesessen hätten und mit dem Schmerz allein hätten umgehen müssen, würde ich hier heute nicht mehr sitzen. Inzwischen ist viel passiert. Zum einen hat uns der Glaube viel Kraft gegeben. Zum anderen haben wir inzwischen Kontakt zu anderen Eltern, denen dasselbe passiert ist und die vielleicht nicht die Kraft oder die Möglichkeit haben, ihre Geschichte zu erzählen. Ich halte das für sehr wichtig, dass auch diese Menschen eine Stimme bekommen.
NDR: Was hat Ihnen den Ruck gegeben, mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen?
Kyrath: Wir als Eltern eines ermordeten 17-jährigen Mädchens müssen unser ganzes Leben lang damit fertig werden, dass unser Kind nicht mehr wiederkommen wird. Wir werden niemals Großeltern. Wir werden niemals die Hochzeit miterleben, Berufsabschluss, Studium, Abitur. Das betrifft ja auch die Mitschüler, die traumatisiert davon sind, dass der Tod gleichaltrige Schüler trifft. Auch Lehrer, Sportfreunde, Messdiener. Das betrifft in jedem einzelnen Fall Hunderte von Menschen. Und es wird nur von den Tätern gesprochen.
NDR: In den Tagen nach der Tat ging es viel darum, welche E-Mail nicht angekommen, welcher Anruf nicht an der richtigen Stelle ankam …
Kyrath: Ich glaube, es wäre falsch, jetzt einen Einzelnen an den Pranger stellen zu wollen. Es bringt uns unsere Tochter uns nicht wieder. Aber für uns ist eine Intention, dass die Menschen, die verantwortlich sind, aus den Fehlern lernen und für die Zukunft präventiv besser mit solchen Situationen umgehen, mit solchen Menschen, die mehrfach straffällig geworden sind. Dass dort endlich die volle Härte des Gesetzes greift und nicht immer nach Ausreden gesucht wird, sondern dass Menschen in Zukunft vor solchen Tätern geschützt werden. Das sind einfach eine ganze Reihe von Verfahrensfehlern, die dort passiert sind, das muss aufgearbeitet werden. Die einzelnen Ämter müssen enger vernetzt sein, es muss eine bessere Kommunikation stattfinden. Meine Verbindung zu unserem Ministerpräsidenten Daniel Günther und zur Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack ist sehr intensiv. Die beiden sind sehr bemüht und hören uns zu, erkennen das Problem und handeln dementsprechend, zum Beispiel bei der Bundesinnenministerkonferenz.
NDR: Ende der Woche beginnt der Prozess. Sie haben gesagt, sie werden der Verhandlung fernbleiben. Warum haben Sie diese Entscheidung getroffen?
Kyrath: In dem Prozess wird es viele Details geben, Videoaufnahmen, Bilder, Beschreibungen. Das sind Bilder, die ich nicht in meinem Kopf haben möchte. Ich möchte meine Tochter so in Erinnerung behalten, wie sie morgens bei mir das Labor verlassen hat.
NDR: Es ist klar, dass Ihnen nichts Ann-Marie zurückbringen kann. Gibt es etwas, was Ihnen ein Gefühl der Gerechtigkeit geben könnte?
Kyrath: Er ist ja angeklagt wegen zweifachen Mordes und vierfachen versuchten Mordes, inklusive Niedertracht und Heimtücke. Ich glaube, dass die Anklage gerechtfertigt ist und es eigentlich nur ein einziges Urteil geben kann. Und das letzte Urteil wird sowieso gesprochen werden, wenn er vor seinen Schöpfer tritt.
NDR: Als sie am 25. Januar nach Hause kamen, ging Ihre Frau auf Sie zu und fragte: Wie soll es weitergehen? Sie sagten, sie hatten damals keine Antwort auf diese Frage, haben Sie heute eine?
Kyrath: Ann-Maries Leitspruch war immer "Aufgeben ist keine Option". Das sagen wir uns heute 50 bis 60-mal am Tag, um den Mut und die Kraft zu finden, weiterzumachen. Es ist allerdings ein sehr schwerer und steiniger Weg. Eines ist mir noch wichtig: In Deutschland ist in den letzten Jahren oft so ein Negativismus eingekehrt und es wird immer gerne hervorgehoben, was alles schlecht läuft. Ich möchte die andere Seite aufzeigen, was trotz dessen, was uns getroffen hat, gut gelaufen ist. Das beginnt bei der Ermittlungsarbeit der Polizei, geht weiter über die uns betreuenden Beamten und die Seelsorgerin, dann natürlich auch viele Organisationen wie der Weiße Ring, die sofort mit Rat und Tat zur Seite standen. Auch die katholische und die evangelische Kirche in Elmshorn, die beide sehr dabei waren. Aber natürlich auch unser Freundes- und Bekanntenkreis, die sich in den ersten vier Wochen rund um die Uhr um uns gekümmert haben
NDR: Vielen Dank für das Gespräch, vielen Dank für Ihre Zeit, Herr Kyrath.
Kyrath: Sehr gerne.
Das Gespräch führte NDR-Reporterin Sofia Tchernomordik.