Nach der Messerattacke von Brokstedt: So geht es den Opfern heute
Am Freitag beginnt der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter von Brokstedt. Sascha Niemann von der Trauma-Ambulanz Westholstein in Elmshorn erklärt, was das für die Betroffenen bedeutet.
Etwas mehr als fünf Monate ist die Messerattacke in einen Regionalzug nun her, bei der zwei Menschen getötet und fünf weitere körperlich zum Teil schwer verletzt wurden. Die Zahl der Menschen, die mit psychischen Folgen kämpfen, dürfte deutlich höher sein. 120 Menschen saßen nach Angaben der Polizei in dem Zug von Kiel nach Hamburg, weitere Menschen bekamen die Tat am Bahnsteig in Brokstedt (Kreis Steinburg) oder im Ort mit. Die beiden Todesopfer gingen in Nachbarstädten zur Schule, viele Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte waren tief erschüttert oder hatten den Angriff auch selbst miterlebt.
Erlebtes kommt oft erst hoch, wenn Ruhe einkehrt
Sascha Niemann von der Trauma-Ambulanz Westholstein und dem Verein Wendepunkt hat die Betroffenen von Anfang an begleitet. Wie es ihnen heute geht, sei sehr unterschiedlich, sagt der Diplom-Pädagoge mit therapeutischer Zusatzausbildung. "Manche sind im Moment noch in einer Phase, wo das Erlebte noch verdrängt wird. Andere leiden unter Schlafstörungen oder wiederkehrenden Bildern." Die Arbeit mit den Betroffenen sei deshalb noch lange nicht vorbei. "Kurz nach so einem Ereignis sind wir eigentlich grundsätzlich alle in einem Schockzustand, einer akuten Belastungsreaktion", sagt er. "Mittlerweile mit dem zeitlichen Abstand zur Tat besteht dann die Gefahr, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln." Deshalb sei es so wichtig, über das Überlebte zu sprechen und sich Unterstützung zu suchen - auch wenn erst später Probleme auftreten.
Denn oft sei es so, dass sich Symptome erst dann zeigen, wenn im Alltag wieder Ruhe eingekehrt sei, so Niemann. Am Montag hatte beispielsweise der Bürgermeister von Brokstedt berichtet, dass die Situation im Ort sich beruhigt habe, weniger über die Tat gesprochen werde. "Dann kann es sein, dass erst jetzt bestimmte Dinge hochkommen", meint Niemann. Insgesamt seien aber auch bei der Trauma-Ambulanz die Anfragen zurückgegangen.
Prozess: Dem Täter in die Augen schauen
Das könnte sich laut dem Traumapädagogen aber möglicherweise bald wieder ändern. Denn am Freitag beginnt vor dem Landgericht in Itzehoe der Prozess gegen den mutmaßlichen Täter. Das berge immer das Risiko, Wunden wieder aufzureißen. Was der Prozess konkret für die Betroffenen bedeutet, sei aber unterschiedlich.
"Für einige ist es wichtig, dem Täter in die Augen zu schauen, ein Gesicht dazu zu bekommen - verbunden mit der Hoffnung, dass es eine Form von Reue gibt. Wiederum gibt es andere, die sagen: Nein, ich will auf keinen Fall damit konfrontiert werden und ich möchte auch den Täter nicht sehen." Sascha Niemann, Trauma-Ambulanz Westholstein
Eine besondere Rolle spielt der Prozess für diejenigen, die vor Gericht als Zeugin oder Zeuge aussagen sollen. "Das macht etwas mit den Menschen", sagt Niemann. Vor allem mache den Betroffenen zu schaffen, dass die Situation schwer zu kalkulieren sei. "Weil es ja auch einfach schwer ist, selbst einzuschätzen: Wie werde ich reagieren, wenn ich in der konkreten Verhandlungssituation bin? Wie reagiere ich, wenn ich den Täter sehe, wenn ich wieder mit den Einzelheiten konfrontiert bin?" Deshalb sei ein traumasensibler Umgang besonders wichtig.
Betroffene können Prozessbetreuung bekommen
Dafür haben Betroffene die Möglichkeit über das Gericht eine psychosoziale Prozessbetreuung zu bekommen. "Das sind Kollegen, die direkt auf den Prozess vorbereiten", erklärt Niemann. In der Regel werden diese mit der Vorladung vom Gericht bestellt, Betroffene können sie aber auch proaktiv über ihre Anwältin oder ihren Anwalt anfragen. Die Betreuerinnen und Betreuer besuchen dann zum Beispiel vorher den Gerichtssaal. Das gebe vielen Menschen Sicherheit - einige wollen nach dem Erlebnis zum Beispiel in der Nähe des Ausgangs oder an einem Fenster sitzen oder die Fluchtwege kennen. Außerdem kann organisiert werden, dass die Zeuginnen und Zeugen aus einem Nebenraum aussagen oder per Video zugeschaltet werden, um dem Angeklagten nicht direkt gegenübertreten zu müssen.
Aus Sicht des Traumapädagogen wird dieses Angebot einerseits von den Betroffenen selbst stark nachgefragt, andererseits auch vom Gericht berücksichtigt. Es gebe ein großes Netz an Hilfsangeboten. Bereits kurz nach der Tat waren Runde Tische und ein Arbeitskreis eingerichtet worden, an denen auch die Trägerinnen und Träger der sozialen Dienste beteiligt waren. Was viele Menschen laut Niemann nicht wissen: Die Tat im Zug kann als Wegeunfall anerkannt werden, sodass die gesetzliche Unfallversicherung oder die Berufsgenossenschaft für die Behandlung von gesundheitlichen Folgen - auch psychischen - aufkommen muss.
Anklage nennt 127 Zeuginnen und Zeugen
Laut Gerichtssprecherin Frederike Milhoffer nennt die Anklage derzeit 127 Zeuginnen und Zeugen. Grundsätzlich müssten diese auch vor Gericht erscheinen, es gebe aber auch Ausnahmen. Die Kammer werde im Einzelfall prüfen, ob die Betroffenen audiovisuell befragt werden können. "Und es wird sich dann zeigen, ob das Gericht wirklich alle Zeugen hören muss", so die Sprecherin. Acht Menschen werden im Verfahren als Nebenklägerinnen und Nebenkläger auftreten. Das Gericht hat rund 40 Verhandlungstage anberaumt - aufgrund der vielen Prozessbeteiligten könne es aber auch länger dauern.
Ob durch den Prozess wirklich belastende Erlebnisse bei den Betroffenen wieder hochgeholt werden und die Anfragen bei der Trauma-Ambulanz zunehmen, sei schwer abzuschätzen, sagt Sascha Niemann. "Ich kann mir eher vorstellen, dass es wieder mehr werden, aber nicht so stark wie direkt nach der Tat". Insgesamt hat die Trauma-Ambulanz seit der Tat laut Niemann eine dreistellige Zahl an Erstgesprächen geführt und unter anderem Fortbildungen mit Lehrkräften organisiert.