Den Angaben der Staatsanwaltschaft zufolge begann ein Mann kurz nach der Abfahrt des Zuges von der Haltestelle in Neumünster, Fahrgäste mit einem Messer zu attackieren und schwer zu verletzen. Dabei bewegte er sich offenbar durch mehrere Waggons. Nach Angaben des Innenministeriums gingen um 14.56 Uhr erste Notrufe bei Leitstelle der Polizei ein. Einige der Passagiere überwältigten den Angreifer noch im Zug. Sieben bis acht Minuten nach der Tat sei ein erster Streifenwagen am Bahnhof in Brokstedt eingetroffen, sagte der Leiter der Polizeidirektion Itzehoe, Frank Matthiesen.
Bei dem Mann handelt es sich laut Innenministerium um Ibrahim A., einen 34-Jährigen aus Gaza ohne festen Wohnsitz. Er reiste 2014 nach Deutschland ein. Sein Asylantrag wurde abgelehnt, A. wurde jedoch subsidiärer Schutz gewährt. In Deutschland lebte er zunächst in Euskirchen in Nordrhein-Westfalen. Von Juli bis November 2021 war der Mann dann in Kiel gemeldet. In einer Gemeinschaftsunterkunft der Landeshauptstadt für geflüchtete Menschen erhielt er ein Hausverbot, weil er Mitbewohnende bedroht haben soll. Anschließend lebte er offenbar im Raum Hamburg, wo er bis kurz vor der Tat in U-Haft saß. Ibrahim A. soll nach Angaben seines Anwalts und nach Recherchen des WDR außerdem psychischen Erkrankungen leiden.
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Ibrahim A. war in mehreren Bundesländern auffällig. Was über seine Stationen in Deutschland bekannt ist.
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Die Staatsanwaltschaft sieht als Tatmotiv die Verärgerung des mutmaßlichen Täters über seine persönliche Situation. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft wollte Ibrahim A. danach seinen Frust ablassen, indem er das gestohlene Messer gegen andere Menschen anwendet. Laut Anklage handelte er dabei in Tötungsabsicht. Hinweise auf einen terroristischen Hintergrund oder eine lange geplante Tat gibt es laut Staatsanwaltschaft jedoch nicht. Der Beschuldigte selbst stritt die Tat zum Prozessauftakt am 7. Juli in Itzehoe ab. Auf Nachfrage des Richters bestätigte er aber, an dem Tag im Zug gewesen zu sein. Der Verteidiger des Angeklagten sagte, sein Mandant habe sich aufgrund einer psychischen Erkrankung möglicherweise bedroht oder provoziert gefühlt.
Während seiner U-Haft in Hamburg hatIbrahim A. laut Justizbehörde Aussagen in Bezug auf Anis Amri getätigt, der 2016 auf dem Berliner Breitscheidplatz mit einem Lastwagen in eine Menschenmenge gerast war. Laut Justizbehörde handelte es sich bei den Äußerungen um einen einmaligen Vorfall, weitere Hinweise auf einen extremistischen Hintergrund habe es nicht gegeben. Auch beim Verfassungsschutz ist Ibrahim A. demnach nicht als extremistisch bekannt. Auch die Staatsanwaltschaft in Itzehoe geht nicht von einem terroristischen Hintergrund der Tat aus.
Laut seinem Anwalt leidet Ibrahim A. unter einer psychischen Erkrankung mit gestörten Wahrnehmungen, die aber nur phasenweise auftreten. Zum Beispiel fühle er sich bedroht oder beleidigt. Nach Recherche des WDR soll Ibrahim A. bereits seit 2015 psychisch auffällig sein, unter anderem an Psychosen gelitten haben. Auch während seiner U-Haft in Hamburg fiel der Mann insofern auf, dass er Stimmen und Klopfen gehört haben soll. Zudem soll Ibrahim A. seit Jahren Drogen nehmen, was ebenfalls zu psychischen Störungen führen kann. Inwiefern er zum Tatzeitpunkt wegen einer solchen psychischen Erkrankung schuldfähig war, soll im Prozess ein Gutachter klären.
Nach Angaben der Staatsanwaltschaft Itzehoe ist der 34-Jährige ein mehrfach in Erscheinung getretener Straftäter - gilt nach den Regelungen in Schleswig-Holstein aber nicht als Intensivtäter. In Schleswig-Holstein ist A. polizeilich nicht aktenkundig. Er wurde laut Innenministerium nur durch eine Streitigkeit und einen Ladendiebstahl auffällig. In Nordrhein-Westfalen verurteilte ihn das Amtsgericht Euskirchen wegen gefährlicher Körperverletzung "mit einem scharfkantigen Gegenstand" zu einem Jahr Haft auf Bewährung. Außerdem wurde zweimal eine Geldstrafe verhängt, für einen Diebstahl und einen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz. In Hamburg soll Ibrahim A. im Januar 2022 vor einer Essensausgabe für Wohnungslose einen anderen Mann mit einem Messer schwer verletzt haben. Dafür wurde er zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Woche ohne Bewährung verurteilt, die er fast vollständig in U-Haft verbrachte.
Nach Angaben der Stadt Kiel hat Ibrahim A. am Tag der Tat zwischen 10 und 11 Uhr ohne Termin den Info-Point der Zuwanderungsabteilung aufgesucht, um dort seine Aufenthaltserlaubnis zu verlängern. Weil er keine gültige Meldeadresse hatte, verwiesen die Mitarbeitenden ihn an die Zentrale Beratungsstelle für wohnungslose Männer (ZBS). Ibrahim A. ging aber offenbar direkt zum Einwohnermeldeamt, wo er gegen 11.15 Uhr vorsprach. Weil er sich ohne Wohnsitz nicht anmelden konnte, wurde er erneut zu ZBS geschickt. Dort tauchte er nach bisherigen Informationen der Stadt nicht auf. Sowohl bei der Zuwanderungsabteilung als auch im Einwohnermeldeamt war der Mann nach Angaben zufolge ruhig und es kam zu keinen besonderen Vorkommnissen. Zwischen 13.07 und 13.16 Uhr soll Ibrahim A. dann ein Fleischermesser mit einer 20 Zentimeter langen Klinge aus einem Supermarkt in Kiel entwendet haben. Um 14.07 Uhr stieg er am Bahnhof in einen ICE in Richtung Hamburg. Weil er keine Fahrkarte hatte, wurde er in Neumünster des Zuges verwiesen. Dort soll er dann gegen 14.45 Uhr in den RE70 gestiegen sein, in dem sich die Tat ereignete.
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Vor dem Angriff war der mutmaßliche Täter in Kiel. Dort hat er laut Staatsanwaltschaft auch das Messer gestohlen.
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Ibrahim A. wurde in Hamburg zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einer Woche verurteilt, weil er einen anderen Mann mit einem Messer verletzt haben soll. Gegen dieses Urteil legte er Rechtsmittel ein und kam daher zunächst zurück in U-Haft. Zu einem Berufungsverfahren kam es nicht, rechtlich hätte jedoch keine höhere Strafe ausgesprochen werden können. Das liegt daran, dass eine Revision nicht zum Nachteil des Angeklagten sein darf, wenn nur diese Seite Rechtsmittel einlegt. Da die Dauer der U-Haft die Freiheitsstrafe nicht übersteigen darf, wurde A. nach etwa einem Jahr aus dem Gefängnis entlassen. Die Hamburger Justizsenatorin Anna Gallina (Grüne) wies Vorwürfe zurück, man habe den wohnungslosen Mann quasi auf die Straße entlassen. Nach der Haftentlassung kam Ibrahim A. den Angaben zufolge im Winternotprogramm der Stadt Hamburg an. Kurze Zeit später nahm er ein Perspektivgespräch der Wohnungsberatung Hamburg wahr. Eine Behördensprecherin sagte, ein Psychiater habe kurz vor der Entlassung aus der U-Haft keine Fremd- und Selbstgefährdung festgestellt. Demnach gab es keine Rechtsgrundlage, ihn länger in Haft zu behalten, eine rechtliche Betreuung zu beantragen oder den Sozialpsychiatrischen Dienst einzuschalten. Bei der psychiatrischen Einschätzung ging es jedoch nicht um eine Prognose, wie Ibrahim A. sich in Zukunft verhalten würde.
Bei seiner Einreise nach Deutschland stellte sich Ibrahim A. als staatenloser Palästinenser vor. Wie die Mehrheit der EU-Staaten erkennt auch die Bundesrepublik die palästinensischen Gebiete nicht als eigenständigen Staat an. Die Staatenlosigkeit von Ibrahim A. wurde damals aber nicht offiziell festgestellt, das hätte eine Ausländerbehörde beantragen müssen. Im Jahr 2016 wurde sein Asylantrag abgelehnt, ihm wurde jedoch subsidiärer Schutz gewährt - jener Schutz also, der greift, wenn weder der Flüchtlingsschutz noch die Asylberechtigung gewährt werden können und dem Menschen im Herkunftsland ernsthafter Schaden droht. Im Jahr 2021 leitete das Bundesamt für Migration und Flüchtling (BAMF) ein Verfahren auf Rücknahme des subsidiären Schutzes ein, nachdem einige der Straftaten an das BAMF gemeldet worden waren. Weil das Amt jedoch keine korrekte Anschrift des wohnungslosen Mannes ermitteln konnte, habe das Verfahren lange nicht vorangebracht werden können, sagte ein Vertreter des BAMF. Zum Zeitpunkt der Tat hielt sich Ibrahim A. also nach wie vor legal in Deutschland auf. Ob der Mann tatsächlich abgeschoben worden wäre, wenn ihm der Schutzstatus früher aberkannt worden wäre, ist fraglich. Da seine Staatszugehörigkeit unklar war, hätte zunächst geklärt werden müssen, in welches Land er gebracht werden sollte. Direkt nach Palästina können Menschen nicht abgeschoben werden, da Deutschland das Gebiet nicht als Staat anerkennt.
Bei den beiden Todesopfern handelt es sich um eine 17 Jahre alte Jugendliche und ihren 19 Jahre alten Freund. Beide stammten aus Schleswig-Holstein. Bei der Tat wurden außerdem fünf Menschen und der mutmaßliche Täter selbst verletzt - zwei Menschen lebensgefährlich, drei weitere schwer. Drei der Verletzten wurden in Krankenhäusern behandelt, darunter ein 62-jähriger Mann und eine 54-jährige Frau aus Schleswig-Holstein sowie eine 27-Jährige aus Hamburg. Zwei weitere 22 Jahre alte Verletzte aus Schleswig-Holstein konnten das Krankenhaus bereits einige Tage nach der Tat verlassen. Bei dem 19-jährigen Todesopfer soll es sich um einen Auszubildenden der DB Fahrzeuginstandhaltung Neumünster handeln, der auch Mitglied der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) Nord war. Das teilte die Gewerkschaft auf Facebook mit. Demnach sei ein weiterer Kollege unter den Schwerverletzten gewesen. Wie viele Menschen durch die Tat seelische Schäden davongetragen haben, ist unklar.
Sascha Niemann vom der Trauma-Ambulanz Westholstein, der viele Betroffenen seit der Tat betreut, spricht von einer dreistelligen Zahl an Erstgesprächen. Im Zug befanden sich nach Angaben der Bahn 120 Personen, auch Ersthelferinnen und Ersthelfer oder sonstige Augenzeuginnen und -zeugen können traumatisiert sein. Auch viele Mitschülerinnen und Mitschüler der Opfer sind von der Tat schockiert. Wie es den Betroffenen heute geht, sei sehr unterschiedlich, sagte Niemann rund fünf Monate nach der Tat. "Manche sind im Moment noch in einer Phase, wo das Erlebte noch verdrängt wird. Andere leiden unter Schlafstörungen oder wiederkehrenden Bildern."
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Am Freitag beginnt der Prozess. Sascha Niemann von der Trauma-Ambulanz Elmshorn erklärt, was das für die Betroffenen bedeutet.
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Am Freitag (7.7.) hat vor dem Landgericht Itzehoe der Prozess gegen Ibrahim A. begonnen. Er ist wegen zweifachen Mordes und wegen versuchten Mordes in vier Fällen angeklagt. Begründet wird das mit den Mordmerkmalen Heimtücke und niedrige Beweggründe. Die Opfer hätten sich demnach in einer Alltagssituation befunden und nicht mit einem Angriff rechnen können. Nun geht es darum, ob das Gericht dem mutmaßlichen Täter alle Taten nachweisen kann und jeweils die Mordmerkmale erfüllt sind. Auch die psychische Verfassung des mutmaßlichen Täters wird im Prozess eine Rolle spielen, dazu nimmt ein Gutachter am Verfahren teil. Der Angeklagte soll unter psychischen Erkrankungen leiden. Zudem soll Ibrahim A. seit Jahren Drogen nehmen, nach Recherchen von NDR Schleswig-Holstein zeigte ein Drogentest nach der Messerattacke von Brokstedt den möglichen Konsum von Kokain und Morphin an.