Kolumne: Die paradoxe Gleichzeitigkeit von Himmel und Hölle
Die Nachrichten sind voll mit Schlagzeilen, die den absoluten Umbruch ankündigen. Aber das Leben geht weiter. Unsere Kolumnistin erinnert daran, dass wir lernen müssen, besser hinzuschauen.
Vor ein paar Tagen saß ich morgens dick in meine Jacke gehüllt auf einer Bank vor einem Café an einer großen Kreuzung. Der Himmel war grau, es nieselte. Autos drängelten, Menschen hasteten grimmig vorbei oder standen mit Handy oder Kippe in der Hand an der Ampel. Der Wind schob Müll über den Bürgersteig. Alles in allem hätte es nicht trostloser sein können. Und ich saß da und grinste. Die Woche davor hatte ich wahrscheinlich 70 Prozent weniger gelächelt als sonst. Warum, muss ich nicht erklären, aber irgendwie brach plötzlich etwas aus mir heraus. Tief in mir sprudelte eine irre Freude auf. Eine absolut deplatzierte Glücklichkeit. Vollkommen unberechtigt und trotzdem war sie da.
Ein Moment außerhalb des Alltagsstroms
Statt wie sonst ein Teil dieses Stroms an dauergestressten Passanten zu sein - immer auf dem Weg von A (was man hasste) nach B (wohin man eigentlich auch nicht wollte) - war ich plötzlich "draußen". Ich weiß nicht, was mich aus dem seelischen Sumpf herauskatapultiert hatte. Vielleicht die schiere Hässlichkeit dieser gesamten Szenerie - diese brachiale 70er-Jahre-Architektur, die abgehalfterten Leuchtreklamen, der Abgasgestank, die zombiehaften Gesichter über den ewig leuchtenden Smartphones, dieser deprimierende Grauschleier über allem. Ich weiß nur, dass ich "draußen" war. Ich saß da und betrachtete das alles so entrückt, wie man im Kino nach Popcorn greift, während auf der Leinwand jemand abgeschlachtet wird. Es war herrlich.
Erkenntnis über das kollektive Seufzen
Mit einem Mal wurde mir klar, wie sehr ich mich hatte anstecken lassen - von diesem kollektiven Seufzen: "In was für Zeiten leben wir, ach, ach, ach." Von der Resignation, vom "Naja, man kann ja eh nichts machen". Ich hatte angefangen, mich vollkommen damit zu identifizieren: Ich, nur ein kleines Rädchen in einem völlig verrosteten Getriebe. Und plötzlich war da diese Freude. Fast hätte ich gejauchzt - und einen der Vorbeihastenden zu Tode erschreckt.
Die Schönheit und das Biest
Ja, die Welt ist an vielen Stellen, wie an dieser Straßenkreuzung, verdammt hässlich geworden - wir haben die Natur verdrängt, die Böden versiegelt. Häuser hochgezogen, die wie optischer Gestank wirken. Ja, die meisten Menschen sind mit ihren Jobs unzufrieden, fühlen sich nicht gesehen, lassen ihre Frustration an anderen aus und hetzen dennoch Tag für Tag hin, Lebensstunde um Lebensstunde. Ja, die weltpolitische Lage und auch die Situation im Land erscheinen instabil, und ja, alles wird teurer. Aber gleichzeitig, parallel zu all diesem Elend, existiert auch noch all das Schöne.
Der freie Wille und die Wahl zur Freude
Zuerst wäre da unser freier Wille. Denn weitaus häufiger, als uns bewusst ist, haben wir die Fähigkeit, nach eigenem Belieben zu handeln. Natürlich beeinflussen uns unsere Umwelt und Lebensgeschichte, trotzdem glaube ich, dass wir grundsätzlich die Möglichkeit haben, uns herauszulösen - zum Beispiel aus dem gemeinschaftlichen Seufzen. Es mag pervers klingen, angesichts der allgegenwärtigen Düsternis, aber ich finde: Das Leben ist schön. Ernsthaft!
Alles da, im selben Augenblick.
Denn es gibt sie, die paradoxe Gleichzeitigkeit von Himmel und Hölle. Ich zum Beispiel erfreue mich zutiefst an all dem Luxus, den wir hier haben. Dem Frieden, der Sicherheit, dieser Fülle an köstlichem Essen, das wir mit einem Schnipsen haben können. An meinem warmen Bett in der Nacht. Dieser Blick in den Sternenhimmel. Das Klatschen der Wellen am Strand. Den Geschmack von gutem Kaffee nach der Mittagspause, die Freude über einen großartigen Song im Radio, der geteilte Witz mit lieben Kollegen. Die Umarmung einer Freundin. Lachanfälle. Diese Dinge sind immer noch da. Leider hören wir auf, sie zu sehen und zu fühlen. Lassen zu, dass sie im Schatten unseres Stresses und unserer Unzufriedenheit stehen. Und denken im schlimmsten Fall sogar: Diese Leichtigkeit, diese Freude - die dürfen wir uns ja auch eigentlich gar nicht mehr erlauben.
Ja zum Glück!
Meine Aufforderung: Jetzt erst recht! Gerade jetzt dürfen wir uns das Glück erlauben - müssen es sogar! Denn dieses Glück gibt uns die Kraft, weiterzumachen und die Erkenntnis, dass wir nicht an ein "muss ja" gefesselt sind. Diese Freude sorgte dafür, dass ich vor ein paar Tagen von dieser Bank aufstehen, in den Bus steigen und beim Vieburger Gehölz aussteigen konnte. Um dann durch den duftenden, stillen Wald zu laufen. Diesem Wald, der die ganze Zeit schon da war und immer sein wird.