"Heide-Mörder": Schicksalstag in SH vor 20 Jahren
Es war überraschend und ein Polit-Krimi: Vor 20 Jahren erhielt Heide Simonis (SPD) im Schleswig-Holsteinischen Landtag bei der Wahl zur Ministerpräsidentin nicht die notwendige Mehrheit der Stimmen - wegen eines anonymen Abgeordneten, dem "Heide-Mörder".
Es gibt nur wenig Tage im politischen Schleswig-Holstein, über die auch nach 20 Jahren immer noch gesprochen wird. Der 17. März 2005. "Wie eingebrannt", hallen die Worte des damaligen Landtagspräsidenten Martin Kayenburg (CDU) nach, als er nach dem vierten Wahlgang das Ergebnis verkündete: "Für den Abgeordneten Carstensen haben gestimmt 34, für die Abgeordnete Simonis haben gestimmt 34, Enthaltungen eine."
Simonis: "Jetzt haben sie Dir den Stuhl unterm Hintern wegezogen“
Es ist das Aus von Heide Simonis (SPD) als Ministerpräsidentin und das Ende ihrer beachtlichen politischen Karriere. Dass ihr die notwendige Stimme versagt bleiben könnte, damit hatte Heide Simonis im Vorfeld überhaupt nicht gerechnet. Umso größer die Enttäuschung, das Entsetzen, die Wut. Sie beschreibt es in einem späteren NDR-Interview so: "Ich kam mir so geknätscht vor, als wenn ich durch eine Mangel durchgedreht worden wäre. Und es war so leichtes Hohlgefühl im Kopf." Sie habe sich an die Niederlage nur schwer gewöhnen können, sagt Simonis. Als öffentliche Person, nicht immer einfach: "Die Häme ist erträglich, das Mitleid manchmal rührend. Man ist ja ein bisschen wie örtlich betäubt, wo ein Hammer auf den Kopf gekommen ist."
Der vierte Wahlgang entscheidet
Der Donnerstag im März vor 20 Jahren: draußen tristes Grau, etwas nieselig. Drinnen im Landeshaus zunächst eine noch lockere, später dann eine aufgeheizte Stimmung: Die ersten drei Wahlgänge sind durch und gibt keine Mehrheit im Parlament für Heide Simonis - immer wieder Krisengespräche vor dem Plenarsaal, in den Räumen der Fraktion, Telefonate mit Berlin. Eigentlich hätte sie schon vor dem vierten Wahlgang für sich entschieden gehabt, nicht erneut anzutreten, so Simonis: "Da war der Instinkt da, da wusste ich schon, dass ich getroffen war." Sie sei dann aber angefleht worden, in ihrer eigenen Fraktion. Man schaffe es, wurde gesagt: "Und zwischen der Überlegung 'Ihr könnt mich alle mal oder gehst Du als brave Parteisoldatin noch mal runter', muss mich mein Instinkt verlassen haben."
Das Ende einer Ausnahmepolitikerin
Bei einer Probeabstimmung steht die erforderliche Mehrheit, im vierten Wahlgang fehlt dann erneut die entscheidende Stimme. Das Entsetzen steht Heide Simonis ins Gesicht geschrieben. Nach mehr als sieben Stunden beendet Landtagspräsident Martin Kayenburg die Sitzung, und Heide Simonis beendet ihre politische Karriere. Sie braucht lange, um sich von dem Wahldebakel zu erholen. Ideen, wer es gewesen sein könnte, hat sie. Namen nennt sie öffentlich bis zu ihrem Tod 2023 nie. Am Ende bleibt ihre nüchterne Einschätzung: "Das war schon ziemlich hinterhältig."
Die Niederlage der einen, der Sieg des anderen
Aus einer ganz anderen Perspektive erlebte Peter Harry Carstensen (CDU) den 17. März 2005. Am Morgen des Wahltages habe er, bevor es in den Landtag ging, im Gottesdienst in der Pauluskirche in Kiel gesessen. In der zweiten Reihe, wie er sagte - die erste war der amtierenden Ministerpräsidentin Simonis vorbehalten. "Wir saßen hier, wir wussten, wir sind Opposition."
Carstensen selbst war zu diesem Zeitpunkt im Kieler Regierungsviertel eher ein Neuling. Er war zuvor Bundestagsabgeordneter gewesen, Schwerpunkt Agrarpolitik. Die Entscheidung, in Kiel zu bleiben, sei "sehr viel Bauchentscheidung" gewesen. Dass er Ministerpräsident werden würde, war nach der knapp verlorenen Landtagswahl aus seiner Sicht jenseits jeder Vorstellung. "Keiner von uns hat irgendwo eine Chance gesehen", sagt er rückblickend. "Wir hatten die Wahl verloren."
Peter Harry Carstensen: "Das war eine Bauchentscheidung"
Überraschend für viele trat Carstensen dann als Gegenkandidat von Heide Simonis bei der Wahl zum Ministerpräsidenten an. Erst am Morgen des Wahltages hatte er die CDU-Fraktion darüber informiert. "Das war eine Bauchentscheidung". Eine Entscheidung, die in der CDU-Fraktion des Schleswig-Holsteinischen Landtages nicht unumstritten war - eine Gegenkandidatur galt eher als unüblich. "Du machst Dich lächerlich", hätten Parteifreunde zu ihm gesagt. Und eigentlich war für ihn klar, dass Heide Simonis die Mehrheit der Stimmen erhalten würde, sagt er heute: "Das noch etwas passieren würde an diesem Tag, daran hatte natürlich niemand gedacht."
Seine Kandidatur, so sagt er, sollte ein Zeichen sein, um eine Alternative zu einer vom SSW tolerierten Minderheitsregierung von SPD und Grünen aufzuzeigen. Erst rückblickend wird klar, welche weitreichenden Folgen diese Kandidatur hatte. Heute sagt er: "Wenn ich das nicht gemacht hätte, dann wäre Heide Simonis Ministerpräsidentin geworden, ohne Probleme. Und wir hätten gar nicht gewusst, dass wir eine Chance versäumt hätten." Die Entwicklung in Schleswig-Holstein und in Deutschland wäre eine andere gewesen.
Carstensen: "Das gönnt man niemandem"
Carstensen spricht heute von einem "sehr wichtigen und einprägenden Tag" für Schleswig-Holstein und der deutschen Politik. Nach Stimmengleichheit im ersten Wahlgang sei er ebenso wie seine Fraktionskollegen davon ausgegangen, dass Heide Simonis im zweiten Wahlgang gewählt werden würde. "Nach der zweiten Abstimmung haben wir gefeixt", erinnert er sich. Später habe man das nicht mehr gemacht, denn es sei keine "Sternstunde" des Parlamentes gewesen so etwas zu erleben. "Das gönnt man niemanden", sagt Carstensen mit Blick auf die fehlende Stimme für Heide Simonis. Er nennt es unmenschlich, dass von Simonis erwartet worden sei, im vierten Wahlgang überhaupt noch anzutreten.
Abweichler bis heute anonym
Auch heute 20 Jahre nach der legendären Abstimmung im Kieler Landeshaus ist unklar, wer Heide Simonis damals die entscheidende Stimme verweigerte. Damit bleiben auch die Gründe im Verborgenen - über Rache, offene Rechnungen und Stimmenkauf wurde spekuliert. Immer wieder gerieten SPD-Abgeordnete in den Blick. Auch Peter Harry Carstensen hat einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte. Aber nennen möchte er den Namen auch 20 Jahre nach dem sogenannten "Heide-Mord" nicht. "Das kann keiner beweisen." Doch auch rückblickend ärgert er sich über die "Unanständigkeit und das Verlogene", nennt das Vorgehen des Abweichlers brutal: "Ich frage mich nur manchmal, was muss das für ein schäbiger Charakter sein, der so etwas macht?"
Der 17. März 2005 hat in Schleswig-Holstein die Politik verändert. Nach der gescheiterten Abstimmung wurde Peter Harry Carstensen Ministerpräsident einer großen Koalition aus CDU und SPD.
