Grundbildung in SH: Wenn Erwachsene Lesen lernen
Etwa zwölf Prozent der Erwachsenen in Deutschland haben Schwierigkeiten zu schreiben und Texte zu lesen und zu verstehen. Und das, obwohl sie Muttersprachler sind und oft sogar einen Schulabschluss haben.
Heute sitzen sie zu fünft an einem runden Tisch im Waschcafé des Anker e.V. in Geesthacht (Kreis Herzogtum Lauenburg): Zwei Muttersprachler und zwei, die gerade Deutsch als Fremdsprache lernen - und Martina Cirkel. Sie ist seit mehr als 20 Jahren Lehrerin an der Volkshochschule. Heute unterrichtet sie hier, zwischen Keksen und Kaffeetassen in gemütlicher Atmosphäre. Es ist ein neues Angebot der Volkshochschulen in Kiel, Flensburg, Ahrensburg (Kreis Stormarn), Wedel (Kreis Pinneberg) und Geesthacht: sogenannte "Offene Lerntreffs im Quartier". Für ihre Schülerinnen und Schüler hat Martina Cirkel Aufgaben ganz nach ihren Bedürfnissen mitgebracht: Lückentexte, Leseübungen und Kurzgeschichten. Zuerst arbeitet jeder für sich, dann tauschen sie sich in der Gruppe aus, helfen sich auch mal gegenseitig. Martina Cirkel geht auf jeden ein, geht rum und korrigiert, lässt sich vorlesen.
Im Alltag fallen Betroffene oft nicht auf
Mehr als 220.000 Erwachsene in Schleswig-Holstein können laut Volkshochschule nicht richtig lesen und schreiben. Die Anzahl der sogenannten "gering literalisierten Erwachsenen" wird in Schleswig-Holstein nicht direkt erhoben: Die Volkshochschule beruft sich dabei auf eine bundesweiten Studie der Universität Hamburg von 2018, deren Ergebnis sie auf die entsprechende Einwohnerzahl umgerechnet haben. Im Alltag fallen die Betroffenen oft nicht auf: Der Großteil von ihnen geht einem Beruf nach, zum Beispiel als Hilfskraft, so die Volkshochschule. Auch die Agentur für Arbeit erhebt keine Zahlen über Defizite beim Lesen und Schreiben, kennt das aber aus der Beratung, erzählt der Chef der Regionaldirektion Nord, Markus Biercher: "Meistens ist es kein Hindernis bei der Jobsuche. Die betroffenen Menschen sind da sehr findig und kreativ und holen sich sonst Hilfe von ihrer Familie oder Freunden." So wie Karsten Schmidt: Wenn er bei einer Internetseite nicht weiterkommt, fragt er seine Frau, früher holte er sich Unterstützung bei Prüfungen: "Ich hab meinen Führerschein und meine Ausbildung gemacht und dadurch, dass ich immer gesagt habe, dass ich Legasthenie habe, habe ich dann Hilfe gehabt bei den schriftlichen Prüfungen."
Offenes Angebot, geringe Hemmschwelle
Die Gründe, warum Erwachsene nicht richtig lesen und schreiben können, sind vielfältig und unabhängig von gesellschaftlichen Schichten, so Nadina Cinar von der Volkshochschule Geesthacht. Manchmal lag es an einer familiären Ausnahmesituation, manchmal wurde eine Lernschwäche nicht rechtzeitig erkannt oder die Person nicht ausreichend gefördert. Auch wenn viele Betroffene einen Schulabschluss und Arbeit haben, leiden sie häufig unter ihrer fehlenden Grundbildung, erzählt Cinar. Daher ist es umso wichtiger, niedrigschwellig Kurse anzubieten, findet auch VHS-Lehrerin Martina Cirkel. Der offene Lerntreff im Waschcafé in Geesthacht schafft es, den Menschen einen leichten Einstieg zu bieten, so Cirkel. Die Offenheit und Unbefangenheit im Umgang miteinander macht es hier für sie so besonders: "Die Leute, die hierher kommen, die wollen unbedingt", erzählt sie. "Da ist auch eine Motivation dahinter, die sich schon sehr unterscheidet von anderen Umgebungen." Nicht in ein Schulgebäude zu müssen, in entspannter Atmosphäre lernen zu können, hilft vielen das Angebot anzunehmen. "Man ist hier auf Augenhöhe", beschreibt Rosemarie Bohn ihre Erfahrung im Lerntreff. "Und Martina Cirkel ist sehr einfühlsam, sie hat immer ein offenes Ohr für meine Bedürfnisse."
Weitere Förderung für Offene Lerntreffs unklar
Seit Juli 2023 trifft sie sich hier jeden Dienstagnachmittag mit bis zu 15 lernwilligen Schülerinnen und Schülern. Bislang wurde das Angebot vom Bund finanziert, doch die Förderung läuft Ende Mai aus. Eine neue Förderung könnte es frühestens im kommenden Jahr geben - darauf hofft die Leiterin der Volkshochschule. Weitermachen wollen sie und Martina Cirkel erstmal auch ohne Geld aus Berlin oder Kiel, jetzt quasi auf Sparflamme. Um Geld zu einzusparen will die Lehrerin in Geesthacht zum Beispiel ihre Stunden zur Vor- und Nachbereitung reduzieren - um weiterhin jeden Dienstagnachmittag in Geesthacht für Erwachsene da zu sein, die endlich richtig lesen und schreiben lernen wollen.