Brokstedt: Stille Andacht für Opfer von Messerattacke
Angehörige und Betroffene haben am Freitag bei einem stillen Gottesdienst in Brokstedt der Opfer gedacht. Ein Mann hatte am Mittwoch in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg andere Fahrgäste mit einem Messer attackiert. Zwei Menschen kamen dabei ums Leben, weitere wurden verletzt.
Etwa 200 Menschen sind am Freitagabend in die Brokstedter Kirche (Kreis Steinburg) gekommen, darunter auch Monika Heinold (Grüne) als stellvertretende Ministerpräsidentin, Innenministerin Sütterlin-Waack (CDU), sowie Aminata Touré (Grüne). Bei einem Gedenkgottesdienst konnten die Besucherinnen und Besucher Kerzen anzünden und an die Opfer erinnern.
In zehn Tagen findet nach Angaben von Propst Stefan Block in Neumünster ein großer Gedenkgottesdienst statt. Der Gottesdienst am Freitag habe eine kleine stille Andacht für die Brokstedter sein sollen, so Block. Im Gespräch mit Anwohnerinnen und Anwohnern habe er gemerkt, dass das Unglück den Menschen auf der Seele liege und er hoffe, mit dem ein oder anderen Wort Hilfe an die Hand zu geben. "Wir haben uns gesagt, wir müssen die Kirche aufmachen. Wir müssen die Möglichkeit geben, sich darin zu sammeln und zu beten", sagte Block gegenüber NDR Schleswig-Holstein.
Bereits am Donnerstagabend hatten sich spontan etwa 100 Menschen am Bahnhof in Brokstedt zum Trauern versammelt. Es wurden viele Trauerblumen und Kerzen als Zeichen der Anteilnahme niedergelegt. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) besuchten am Donnerstagnachmittag das betreffende Gleis, um der Opfer der Bluttat zu gedenken.
Integrationsministerin Touré findet klare Worte
Nach der Attacke, die für eine 17-Jährige und ihren 19-jährigen Bekannten tödlich endete, bewegt die Politik vor allem die Frage, wie solche Taten zukünftig verhindert werden können. Integrationsministerin Aminata Touré (Grüne) kündigte im Interview mit NDR Schleswig-Holstein an, zusammen mit dem Justiz- und dem Innenministerium prüfen zu wollen, ob und an welcher Stelle bei der Entlassung aus der Haft nachgebessert werden müsse und wie es mit der Durchsetzung von Ausweisungen aussieht. Doch egal welche Fehler im Umgang mit dem Tatverdächtigen möglicherweise gemacht wurden und "egal wie herausfordernd die Situation eines Menschen ist: Es rechtfertigt zu keinem Zeitpunkt, zwei unschuldige Menschen zu töten und andere zu verletzen", so Touré. Am Freitag sei es aber erst einmal darum gegangen, bei den Trauernden und den Opfern zu sein.
Todesopfer gingen in Neumünster zur Schule
Die beiden Todesopfer waren laut Bildungsministerin Karin Prien (CDU) Schüler in Neumünster. Am Freitag besuchte Prien die Schule, um "zum Ausdruck zu bringen, dass wir mit den Schülerinnen und Schülern, mit den Lehrkräften, den Sozialarbeitern, den Schulpsychologen gemeinsam trauern". An der Schule gebe es laut Prien ein gutes Kriseninterventionsteam. Die gesamte Schulgemeinschaft arbeitet nach Priens Angaben das Verbrechen gemeinsam mit der Klasse, in der die getötete Schülerin ging, und der Klasse des getöteten Jungen auf. "Aber auch die anderen Schülerinnen und Schüler sind natürlich betroffen davon, dass auf einer Bahnstrecke, die sie täglich benutzen, ein solches Verbrechen geschehen konnte."
Bei dem 19-jährigen Todesopfer soll es sich um einen Auszubildenden bei der DB Fahrzeuginstandhaltung Neumünster handeln, der auch Mitglied der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) Nord war. Das teilte die EVG auf Facebook mit. Demnach sei ein weiterer Kollege unter den Schwerverletzten. Ein Kriseninterventionsteam der Malteser habe die Mitarbeitenden am Donnerstag aufgrund eines psychischen Ausnahmezustandes unterstützt.
Haftbefehl gegen Tatverdächtigen erlassen
Am Donnerstagnachmittag wurde der 33-jährige Ibrahim A. dem Haftrichter am Amtsgericht Itzehoe (Kreis Steinburg) vorgeführt. "Wir führen ein Verfahren wegen zweifachen heimtückischen Mordes und vier Fällen des versuchten Totschlags", bestätigte Oberstaatsanwalt Peter Müller-Rakow. Wegen der Schwere des Vorwurfs und der nicht auszuschließenden Fluchtgefahr des Verdächtigen wurde Haftbefehl erlassen. Mittlerweile wurde der Tatverdächtige nach Angaben eines Sprechers des Justizministeriums in die Justizvollzugsanstalt Neumünster verlegt, da dort bessere Möglichkeiten für eine mögliche medizinische Folgebehandlung bestünden.
Staatsanwaltschaft: Terroristischer Hintergrund kann ausgeschlossen werden
Wie Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) am Donnerstagnachmittag bei einer Pressekonferenz in Kiel erklärte, wurden zwei der insgesamt fünf Verletzten lebensgefährlich verletzt, die anderen drei schwer. Drei der Verletzten wurden in Krankenhäusern behandelt, darunter ein 62-jähriger Mann und eine 54-jährige Frau aus Schleswig-Holstein sowie eine 27-Jährige aus Hamburg. Der Zustand der drei sei derzeit stabil und alle bei Bewusstsein, berichtete die Polizei am Montag. Zwei weitere 22 Jahre alte Verletzte aus Schleswig-Holstein haben das Krankenhaus bereits verlassen.
Laut Sütterlin-Waack war auch der mutmaßliche Täter leicht verletzt, als ihn die Polizei am Mittwoch festnahm. Widerstand soll der Mann dabei nicht geleistet haben. Er sei in einer Klinik behandelt worden. "Ergebnisse einer Vernehmung gibt es noch nicht", sagte die Innenministerin. Daher könne man noch keine Aussage über mögliche Motive machen. Ein terroristischer Hintergrund kann laut Staatsanwaltschaft aber ausgeschlossen werden.
Wenige Stunden vor der Tat hatte der Mann in Kiel bei den Behörden eine Aufenthaltskarte beantragt. Dabei habe er sich völlig unauffällig verhalten, wie Stadtrat Christian Zierau mitteilte. Was danach genau bei dem Messerangriff in dem Regionalzug passierte, ist weiter unklar.
Täter war vorbestraft, aber nicht "vollziehbar ausreisepflichtig"
Nach aktuellen Angaben der Innenministerin lautet der Name des Täters Ibrahim A. "Er ist ein 33 Jahre alter, staatenloser Palästinenser", so Sütterlin-Waack weiter. Von Juli bis November 2021 soll der Mann in Kiel gemeldet gewesen sein, weshalb er auch bei der Ausländerbehörde in Kiel geführt werde. "In Schleswig-Holstein gibt es zu ihm keine polizeiliche Kriminalakte", sagte die Ministerin. Der Polizei lägen jedoch zwei Einsatzberichte vor - einer wegen einer Streitigkeit, einer wegen Ladendiebstahls.
Allerdings sei der Messerangreifer seit seiner Einreise im Jahr 2014 bereits in Nordrhein-Westfalen und in Hamburg straffällig geworden - unter anderem wegen Gewalttaten. Erst am 19. Januar 2023 sei er aus einer Untersuchungshaft in der Hamburger JVA Billwerder entlassen worden. Dort habe er wegen gefährlicher Körperverletzung eingesessen, so die Ministerin. Auf die Frage, ob man die Tat nicht hätte verhindern können, sagte Sütterlin-Waack: "Das ist natürlich auch eine Frage, die im Rahmen der Justiz entschieden wird. Und da gibt es sehr fachkundige Menschen, die sich genau darüber Gedanken machen, ob es noch eine Betreuung nach der Haft geben muss. Und offensichtlich hat man hier in diesem Fall gesagt: Er hat seine Strafe verbüßt. Das ist so vorgesehen in unserem Rechtssystem."
Eine Abschiebung des Mannes kam laut Katja Ralfs von der Zuwanderungsabteilung des schleswig-holsteinischen Sozialministeriums nicht infrage - hierfür hätte der Betroffene "vollziehbar ausreisepflichtig" sein müssen. Dies sei nach aktuellem Stand jedoch nicht der Fall gewesen, so Ralfs weiter.
Messerattacke auf Wohnungslosen
Bei der vorherigen Tat soll es sich ebenfalls um einen Messerangriff gehandelt haben. Der Mann soll im Januar 2022 vor einer Essensausgabe für Wohnungslose einen anderen Mann mit einem Messer schwer verletzt haben. Sein Urteil sei noch nicht rechtskräftig gewesen. Da der Mann aber bereits ein Jahr in U-Haft saß, entschied das Landgericht Hamburg vergangene Woche, ihn zu entlassen.
Laut der Hamburger Behörde für Justiz und Verbraucherschutz sei A. während der Haft auffällig geworden, weshalb durchgängig eine psychiatrische Betreuung stattgefunden habe. Am Ende der Haft habe es dann noch eine Einschätzung von einem Psychiater gegeben und die lautete: Keine Gefahr für sich selbst oder andere. Außerdem habe die JVA nach seiner Entlassung kurzfristig eine Methadon-Behandlung für ihn organisiert. Der Anwalt des Beschuldigten schildert es so, dass sich der Zustand des 33-Jährigen während der Haft immer weiter verschlechtert habe, vor allem psychisch - und er immer mehr Drogen genommen und wohl zum Teil auch halluziniert habe.
Fall wird auch Thema im Düsseldorfer Landtag
Der Mann war nach dpa-Informationen mehrere Jahre lang im nordrhein-westfälischen Euskirchen gemeldet und wurde in der Zeit mehrfach wegen verschiedener Straftaten auffällig. Laut Oberstaatsanwalt Carsten Ohlrogge handelte es sich unter anderem um ein Betäubungsmitteldelikt, eine Körperverletzung und die genannte schwere Körperverletzung, dennoch sei er kein Intensivtäter. Sexualstraftäter, wie verschiedene Medien berichteten, sei er nicht gewesen, so Ohlrogge. Der Rechtsausschuss des Düsseldorfer Landtags wird sich mit dem Fall befassen. SPD und FDP haben gemeinsam eine Sondersitzung beantragt. Als Termin wird der kommende Dienstag (31. Januar) angepeilt.
Mutige Ersthelferinnen und Ersthelfer
Die Landtagssitzung am Donnerstag stand ebenfalls im Zeichen der Attacke. Eka von Kalben (Grüne), Vizepräsidentin des Landtags, hielt eine Ansprache, anschließend gab es eine Schweigeminute. Von Kalben betonte ebenfalls, die Gedanken gelten den Opfern und ihren Angehörigen. Außerdem sprach sie den Ersthelferinnen und Ersthelfern, die sich dem Täter entgegengestellt hatten, ihre Hochachtung aus. "Ihr Mut und ihre Entschlossenheit, ihre Selbstlosigkeit und ihre Besonnenheit verdienen den allergrößten Respekt", sagte sie. In Brokstedt war die Hilfsbereitschaft groß: Helfer hatten schnell im Bürgerhaus einen Raum hergerichtet. Dort bekamen Menschen, die in dem Zug gesessen hatten, Decken und warme Getränke.
Ermittlungen laufen - Zeugen- und Hilfetelefon eingerichtet
In dem Regionalzug gab es nach Polizeiangaben keine Videoüberwachung. Die Polizei bittet deshalb alle Mitfahrenden, die noch nicht mit den Ermittlern gesprochen haben, sowie weitere Zeugen, sich unter der Telefonnummer (04821) 602 2002 zu melden. Außerdem ist unter der (0800) 000 75 54 ein Hilfetelefon eingerichtet.
Korrekturhinweis: In einer vorherigen Version dieses Textes hatten wir fälschlicherweise geschrieben, dass es sich bei dem 19-jährigen Todesopfer um einen Auszubildenden der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) Nord handelte. Er war Auszubildender bei der DB Fahrzeuginstandhaltung Neumünster und Mitglied der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) Nord. Wir bitten dies zu entschuldigen.