Entscheidungen fürs Leben - an einer Kieler Gemeinschaftsschule
Die Gemeinschaftsschule in Kiel-Wellingdorf ist eine sogenannte Brennpunktschule. Schülern der 9c stellt sich im Moment eine Frage, deren Antwort entscheidenden Einfluss auf ihr Leben nehmen könnte.
Wenn Frederike Schrader vor der Klasse steht, ihren Finger an den Mund legt und "pshhht" sagt, wird es schlagartig leise. Arda hört auf, sich mit Kaan zu kabbeln, das Getuschel zwischen Tamara und Alina verstummt, und sogar Ario hält kurz die Füße still. Die gesamte 9c ist da: volle Konzentration. "Sehr gut", sagt ihre Klassenlehrerin und blickt in die Runde. "Ihr macht das mittlerweile echt toll, ich bin stolz auf euch!" Ihr Lächeln leuchtet bis in den letzten Winkel des Klassenzimmers. Selbst Niko, der sonst immer ernst schaut, muss grinsen.
Vier von fünf Kindern sprechen zu Hause kein Deutsch
Wenn Lehrerin Schrader lobt, fühle sich das "gut an, motivierend", sagen die Schülerinnen und Schüler. Der Punkt "Motivation" ist entscheidend. In vielen Elternhäusern fehlt es an Unterstützung. Von den 700 Kindern und Jugendlichen, die hier zur Schule gehen, kommen viele aus Haushalten, die von Armut betroffen sind. Vier von fünf Kindern sprechen zu Hause kein Deutsch. Etliche haben Flucht und Vertreibung erlebt.
Das neunte Schuljahr ist für alle hier wichtig
So lauten auch die Geschichten der 14- und 15-Jährigen aus Schraders 9c. Da ist Kaan, der zweisprachig mit Deutsch und Türkisch aufgewachsen ist. Tamara spricht mit ihren Eltern, die aus Ghana stammen, vor allem die Sprache Twi. Rafa unterhält sich mit seinen Eltern auf Kasachisch. Im Klassenzimmer wird jedoch Deutsch gesprochen - oder besser gesagt: Jugendsprache.
Die Welt wartet
Das neunte Schuljahr, das ist für alle Schüler hier - egal, ob die Familie aus Syrien kommt oder Bordesholm - ein ziemlich wichtiges Schuljahr. Wenn nicht gar das wichtigste. In diesem Jahr nämlich müssen sie entscheiden, was sie aus ihrem Leben machen wollen, wenn sie den Ersten allgemeinbildenden Schulabschluss (ESA) in der Tasche haben.
Den Abschluss, früher Hauptschulabschluss, machen sie nach Abschluss der neunten Jahrgangsstufe. Danach haben sie dann entweder die Möglichkeit, wenn ihre Noten gut genug sind, zu versuchen in die zehnte Klasse weiter zu gehen und dort den Mittleren Schulabschluss (MSA), früher Realschulabschluss, zu machen. Oder sie gehen von der Schule ab und machen eine Ausbildung.
"Heutzutage müssen die so früh parat stehen"
"Die sind noch ganz, mein Vater hat gesagt: 'bannig jung'," sagt Frederike Schrader. "Wenn sie nicht frontal vor dir sitzen, sondern du sie im Umgang erlebst, siehst du, dass sie noch klein sind. Dann denke ich immer: krass, und euch müssen wir jetzt schon rausschicken." Sie müssen aus der Schule in die Welt. Früh aufstehen, zuverlässig sein, abliefern - arbeiten bedeutet auch, erwachsen zu sein. Die Lehrerin seufzt: "Heutzutage müssen die so früh parat stehen. Ich finde schon, dass ihnen ein bisschen Zeit geraubt wird."
Die Aussicht Geld zu verdienen spornt an
Arbeiten bedeutet jedoch auch Geld zu verdienen, und das ist ein Anreiz, der viele lockt. Tamara, die Klassensprecherin der 9c, freut sich auf ihr erstes Gehalt. Während ihres zweiwöchigen Betriebspraktikums, einem Meilenstein des neunten Schuljahres, bekommt sie ein Gespür fürs Berufsleben. Obwohl der Beruf der Einzelhandelskauffrau, den sie in ihrer Praktikumsstelle, einer Parfümerie, erlernen könnte, nicht ihr Traumberuf ist, verspürt sie eine Ahnung von Unabhängigkeit. "Ich hoffe bald, wenn ich Geld verdiene, kann ich mir auch so schönes Make-up kaufen", sagt sie optimistisch. Diese Aussicht auf finanziellen Freiraum spornt sie an, sich im zweiten Schulhalbjahr nach Ausbildungsplätzen umzusehen.
Alternative: Mittlerer Schulabschluss
Ihrem Schulkameraden Rafa setzt der Schulstress zu. Im Frühjahr, als es um die Abschlussprüfungen geht, verschlimmert sich bei dem dunkelhaarigen Jungen das Tourette-Syndrom, mit dem er lebt. Die neurologische Erkrankung, die unkontrollierbare Ticks hervorruft, sorgt dafür, dass es ihm schwerfällt, im Unterricht mitzukommen.
Als darum im Mai auf dem Spiel steht, ob er sein eigentliches Ziel, nämlich in die zehnte Klasse zu gehen und den MSA zu machen, schafft, bewirbt er sich kurzerhand bei einem Hotel als Koch. "Ich hab keine Lust mehr auf Schule, der ganze Stress und so... Arbeiten, Geld machen!"
Vorbereitung ist alles
Damit die Konfrontation mit der Berufswelt möglichst harmonisch abläuft, bereitet Klassenlehrerin Frederike Schrader Tamara, Rafa und die anderen Schülerinnen und Schüler der 9c gründlich vor. Es werden Bewerbungsgespräche geübt, außerdem wird über die Rolle von Pünktlichkeit und Verlässlichkeit gesprochen. Die Lehrerin hört sich die Sorgen der Jugendlichen an. Ein Mädchen äußert, dass sie Angst hat, aufgrund ihres Kopftuchs diskriminiert zu werden. Ein Junge fürchtet, dass man sich über ihn und seine Krankheit lustig macht.
"Als ich einfach ich geworden bin, hat das mit der Klasse geklappt"
Für die Lehrerin gehören diese Gespräche mit den Jugendlichen genauso dazu wie der Deutsch- oder Matheunterricht. Sie berichtet, dass sie, als sie Lehrerin wurde, anfangs geglaubt hat, sie müsse streng sein, "so wie man sich Lehrer früher vorgestellt hat". Dabei gelingt es ihr nicht, eine Verbindung zu den Kindern herzustellen.
Sie merkt, dass sie nicht sie selbst ist. Das führt zu einem Schlüsselmoment: So funktioniert es nicht, Lehrerin zu sein. Die gebürtige Lübeckerin strahlt: "Als ich einfach ich geworden bin, hat das mit der Klasse geklappt, hat alles viel besser geklappt."
Individuell statt streng
Ihr Konzept: nicht streng zu sein, sondern individuell auf jedes Kind einzugehen. Liebevoll, aber klar. Den Jugendlichen, die diese Unterstützung oft nur hier erhalten, hilft das: "Sie haben so wahnsinnig viel, was sie brauchen", sagt Schrader. "Aber vor allem brauchen diese Kinder Aufmerksamkeit, ganz viel 'Ich werde gesehen' und dass da jemand ist, der sie gern hat. Ich finde, das ist einfach wichtig, dass sie hier willkommen sind."
Frau Schraders 9c: Noch sind sie Schülerinnen und Schüler, aber nicht mehr lange. Die Welt wartet. Hier sitzen die dringend benötigten Auszubildenden von morgen - Handwerkerinnen, Köche und Elektriker. Hier sitzen vor allem 14- und 15-Jährige aus Kiel. Jugendliche mit Hoffnungen, Sorgen und Träumen. Für sie heißt es nun: Erwachsenwerden im Schnelldurchlauf.