Aus Liebe zum Brot: Bäcker seit mehr als 70 Jahren
Kleine Bäckereien ohne Filialen wie die Stadt-Bäckerei in Glückstadt gibt es in Schleswig-Holstein immer seltener. Hier steht der mittlerweile 86-jährige Reinhold Witt noch immer in der Backstube.
Das Papier fühlt sich an, als würde es gleich auseinanderfallen. Auch die vergilbte Farbe der Seiten und die teilweise ausgeblichene Schrift verraten das Alter der Rezepte, nach denen Reinhold Witt in seiner Stadt-Bäckerei in Glückstadt (Kreis Steinburg) heute noch backt. Sie stammen von seinem Großvater, der sie vor gut 100 Jahren notiert hat. "Ich habe sie mir alle abgeschrieben", sagt Reinhold Witt.
Witt ist selbst mittlerweile 86 Jahre alt und seit sieben Jahrzehnten Bäcker. Er führt die Stadt-Bäckerei, die sein Großvater 1898 übernahm, seit den 1960er-Jahren - und zwar als Einzelgeschäft. Bis vor ein paar Jahren gab es in Glückstadt noch drei solcher Kleinbäckereien, bei denen hinter dem Verkaufsraum (in einem Fall: darüber) noch richtig gebacken wurde. Seit Ende 2023 gibt es nur noch Reinhold Witt, zumindest an vier Tagen die Woche. Ansonsten: Filialisten.
Bäckereien in SH: Anzahl sinkt, Betriebsgröße steigt
Damit zeigt sich in Glückstadt eine Entwicklung, die es so im ganzen Land gibt: "Insgesamt sinkt die Zahl der Betriebe", sagt Jan Loleit von der Bäcker- und Konditoren-Vereinigung Nord. "Vor allem kleine Bäckereien geben auf, während die Großen größer werden." Zwar gründeten sich kleinere Betriebe auch neu, aber eher in Großstädten und in der Nische, zum Beispiel für glutenfreie Backwaren. Der Zentralverband des Deutschen Bäckerhandwerks, in dem rund 60 Prozent aller Bäcker organisiert sind, zählte im Jahr 2023 noch 234 Betriebe in Schleswig-Holstein. Das waren rund 4,5 Prozent weniger als 2022.
Auch an der Westküste zeigt sich diese Entwicklung: Im Kreis Steinburg zum Beispiel gibt es laut Handwerkskammer Lübeck derzeit noch zehn Betriebe – seit 2015 haben sechs aufgegeben.
Altbäcker in Glückstadt: Auch Schlaganfall stoppt ihn nicht
Auch Reinhold Witts Stadt-Bäckerei hätte beinahe dazugehört, vor fünf Jahren hatte er einen Schlaganfall: "Ich wachte auf und konnte mich nicht mehr bewegen, gar nicht mehr", erinnert sich der 86-Jährige an die Zeit im Krankenhaus. "Ich sagte mir gleich: Ich muss hier raus, ich muss das schaffen, dass ich wieder ganz normal gehen kann."
Mühlenbäckerei: Frisch gemahlenes Mehl
Seine Reha, sagt Reinhold Witt, machte er dann in der Backstube, die gleich hinter dem Verkaufsraum liegt. Das Fachwerkhaus mit weißem Putz am Glückstädter Fleth stammt aus dem Jahr 1629, zwei Jahre später zog die erste Bäckerei hier ein. In den drei großen Frontfenstern ist jeweils ein Schild mit der Aufschrift "Mühlenbäckerei" angebracht, ein Hinweis darauf, was Reinhold Witt wichtig ist: Viele seiner Brote und Brötchen haben einen hohen Anteil an Vollkornmehl, das täglich frisch gemahlen wird. "Wenn man an einer Scheibe riecht, dann riecht man den Acker, von dem das Getreide kommt."
Komplett erholt hat Reinhold Witt sich von seinem Schlaganfall nicht. Wer ihn besucht, erlebt einen Bäcker, dem das Laufen wie das Sprechen schwerfällt, und der auch seine rechte Hand nicht mehr richtig nutzen kann. Das sei für ihn das größte Problem, sagt Reinhold Witt, der an diesem Tag Roggenbrote knetet und Brötchen faltet. "Das sind Handgeschlagene", sagt der Bäcker und faltet die Seiten von Teiglingen immer wieder zur Mitte hin. "Das ist sehr schwer."
Bis zu 20 verschiedene Brote
Dass Reinhold Witt das überhaupt noch alles schafft und vorne in der Auslage immer mehrere Sorten Brötchen und bis zu 20 verschiedene Brote liegen, das hat auch mit Technik zu tun. "Ich habe immer darauf geachtet, die besten Maschinen zu haben", sagt er. "Das zahlt sich jetzt aus." Zwar sind die Geräte sichtlich in die Jahre gekommen, jedoch funktioniert in der Backstube noch alles - vor allem der Ofen, der nachts automatisch anspringt und um fünf Uhr heiß ist, wenn Reinhold Witt anfängt zu arbeiten.
Dann nimmt Witt – er wird dabei mittlerweile von einer Hilfe unterstützt – Brot- und Brötchenrohlinge aus einer Art Gärschrank, in dem diese zuvor aufgetaut wurden. Denn das ist das Prinzip: Der Bäcker stellt nicht alles, was nachts gebacken wird, am selben Abend oder in derselben Nacht her, sondern friert ein, was er morgens und nachmittags vorproduziert – und nimmt aus dem Schockgefrierer immer nur das, was am Vortag verkauft und wieder benötigt wird.
Von der Verkäuferin zur Co-Bäckerin
Außerdem ist da Ramona Rahlf. Sie fing vor gut 25 Jahren in der Stadt-Bäckerei als Verkäuferin an, als dort noch bis zu acht Bäcker arbeiteten. Mittlerweile ist sie eine Art Co-Bäckerin und stellt Brötchen genauso her wie Brote, Kuchen und Gebäckstücke. "Mit der Zeit gab es immer weniger Personal hier, sodass es nicht ausblieb, dass ich mithelfen musste", sagt sie. "Das finde ich aber auch schön, weil ich den Kunden richtig erklären kann, was zum Beispiel in den Broten drin ist und wie sie hergestellt werden."
Reinhold Witt findet, dass eigentlich alle Verkäuferinnen und Verkäufer wenigstens hin und wieder in der Backstube mithelfen sollten. "Damit sie die Produkte auch richtig kennen", sagt er. Für ihn selbst scheint es sowieso keinen schöneren Platz zu geben, auch mit 86 Jahren nicht: "Ich mache das hier, weil ich Spaß daran habe, weil ich meinen Beruf liebe", sagt Witt. Ans Aufhören denkt er nicht: "Darüber entscheidet der liebe Gott", sagt der Bäcker und lacht.