Tödliche Polizeischüsse: Kritik an Einstellung der Ermittlungen
Die Staatsanwaltschaft Verden hat die Ermittlungen gegen 14 Polizeibeamte nach tödlichen Schüssen auf einen Mann aus Gambia eingestellt. Der Flüchtlingsrat Niedersachsen fordert weitere Aufklärung.
Der Flüchtlingsrat Niedersachsen kritisiert die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, nach dem Tod des 46-Jährigen Lamin T. bei einem Polizeieinsatz nicht weiter zu ermitteln. In einer Mitteilung fordert die Organisation eine unabhängige gerichtliche Aufklärung der Todesumstände des Mannes aus Gambia Ende März in Nienburg. Die Ehefrau des Getöteten sagte NDR Niedersachsen, dass sie nicht verstehen könne, dass nicht mehr ermittelt werde. Die beiden lebten zum Zeitpunkt des Polizeieinsatzes getrennt. Dennoch hat sie über ihren Anwalt Hans-Jörg Niebergall Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens eingelegt. Er habe sich die Ermittlungsakte kommen lassen, so Niebergall - und äußerte Zweifel. Es könne einfach nicht sein, dass 14 Polizeibeamte sich in Gefahr befunden haben und jemanden töten mussten, sagte er im Gespräch mit dem NDR. Der Flüchtlingsrat hatte zuvor bereits angekündigt, die Familie im Fall einer Beschwerde zu unterstützen.
Ermittler: "Polizisten waren in Lebensgefahr"
Für ihre Ermittlungen hatte die Staatsanwaltschaft Verden die Aufnahmen zweier Bodycams ausgewertet, den Munitionsbestand in den Dienstwaffen der an dem Einsatz beteiligten Beamten untersucht sowie ein rechtsmedizinisches und ein waffentechnisches Gutachten eingeholt. Die Behörde kommt zu dem Schluss, dass sich die Polizisten bei dem Einsatz am 30. März in Nienburg in Lebensgefahr befanden. Vorherige Versuche, die Lage zu deeskalieren, andere Mittel wie Reizgas und einen Diensthund einzusetzen oder auch mit Schüssen zu drohen, seien erfolglos geblieben, so die Staatsanwaltschaft. Der Einsatz der Schusswaffen sei als "letztes Mittel" und "unter Einhaltung der Regelungen des Niedersächsischen Polizeigesetzes gerechtfertigt erfolgt".
Einsatz am Karsamstag in der Wohnung des Gambiers
Nach Darstellung der Ermittler war es zu dem Polizeieinsatz gekommen, weil der 46-Jährige seine Freundin in seiner Wohnung mit einem Messer bedroht hatte. Die Frau flüchtete und alarmierte per Notruf die Polizei. Das weitere Geschehen am Karsamstag schildert die Staatsanwaltschaft nach ihren Ermittlungen so: Beim Eintreffen der Polizisten habe der Mann den Beamten zunächst hinter verschlossener Tür verbal mit einem Messerangriff gedroht. Als die Polizisten die Tür aufbrachen, soll dem Mann aus Gambia das Messer aus der Hand gefallen sein, woraufhin er ein anderes Messer ergriffen habe, mit dem er auf die Beamten zugegangen sei, so die Staatsanwaltschaft. Auf die mehrfache Aufforderung der Polizisten, das Messer fallen zu lassen, habe er nicht reagiert.
46-Jähriger stand mit Messer vor zwei Polizisten
"Die Gefahrenlage spitzte sich zu", so die Staatsanwaltschaft weiter, als der 46-Jährige im Garten vor der Wohnung auf zwei Polizisten losgegangen sei und mit dem Messer mehrfach in deren Richtung gestochen habe. Mit einem Polizeischild habe dies abgewehrt werden können. Anschließend habe der Mann mit vorgehaltenem Messer vor zwei weiteren Polizisten gestanden. Daraufhin seien "in kurzer Abfolge mehrere Schüsse auf den 46-Jährigen abgegeben worden", so die Staatsanwaltschaft. Die Schüsse wurden den Angaben zufolge drei Polizisten zugeordnet. Davon hätten zwei Polizisten jeweils einen tödlichen Schuss abgefeuert.
Flüchtlingsrat sieht offene Fragen
Der Flüchtlingsrat wirft erneut die Frage auf, ob die Polizei mit der Art ihres Vorgehens selbst dazu beigetragen hat, dass der Einsatz eskalierte - und ob das durch deeskalierende Maßnahmen hätte vermieden werden können - etwa einem "vorübergehenden Rückzug" oder der "Hinzuziehung von psychologischem Fachpersonal", schreibt die Organisation. Zudem beteuere die Freundin des Getöteten bis heute, sie sei zu keiner Zeit von Lamin T. bedroht worden, teilte die Organisation mit. Es sei zudem wichtig zu prüfen, ob rassistische Einstellungen das Verhalten der Beamten gegenüber dem Gambier beeinflusst hätten.
Polizist mit verfassungsfeindlicher Einstellung? Prüfung läuft
Tanja Wulff-Bruhn, die Präsidentin der Polizeidirektion Göttingen, zu der die Polizeiinspektion Nienburg/Schaumburg gehört, wies den Vorwurf zurück, dass bei dem Einsatz Rassismus oder Diskriminierung in irgendeiner Form eine Rolle gespielt hätten. Eine mögliche verfassungsfeindliche Einstellung eines beteiligten Polizeibeamten werde geprüft. Diese potenzielle Einstellung habe aber keinen Einfluss auf den Einsatz oder dessen Verlauf gehabt, dies hätten die Ermittlungen ergeben, so Wulff-Bruhn. Der betreffende Polizist sei aufgrund einer dienstrechtlichen Verfügung nicht mehr im Dienst. Knapp vier Wochen nach dem tödlichen Einsatz in Nienburg hatte die Polizeidirektion Göttingen mitgeteilt, dass es Vorwürfe gebe, denen zufolge der Diensthundeführer "rechtsextreme Inhalte und Verschwörungstheorien" im Internet verbreitet habe.
Situationen mit Messer: "Gefährlich für alle Beteiligten"
Der Familie des getöteten Gambiers drückte die Präsidentin der Polizeidirektion Göttingen ihr "aufrichtiges Mitgefühl" aus. Nicht zuletzt an diesem Einsatz habe sich gezeigt, "wie herausfordernd und gefährlich Situationen sind, in denen Messer eingesetzt werden", sagte Wulff-Bruhn. Solche Umstände seien schwer beherrschbar und stellten "ein enormes Risiko für alle Beteiligten" dar. Sie zeigte sich erleichtert darüber, dass die Staatsanwaltschaft Verden das Verfahren gegen alle beteiligten Polizeibeamtinnen und -beamten eingestellt hat.
Polizistin durch Schuss schwer verletzt - Verfahren eingestellt
In dem Einsatz war auch eine Polizistin von einer Kugel getroffen und schwer verletzt worden. Da jedoch kein vollständiges Projektil gefunden wurde, konnte nicht ermittelt werden, wer diesen Schuss abgegeben habe, so die Staatsanwaltschaft. Daher hat die Behörde auch in diesem Fall das Ermittlungsverfahren eingestellt.