Missbrauch in evangelischer Kirche: Laut Studie Tausende Betroffene
Erstmals hat ein unabhängiges Forscherteam sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche untersucht. Die am Donnerstag in Hannover vorgestellte Studie geht von Tausenden Betroffenen aus.
Die Zahl der von Missbrauch Betroffenen in der evangelischen Kirche und Diakonie ist weitaus höher als bisher angenommen. In der "ForuM"-Studie eines von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragten Forscherteams ist von mindestens 2.225 Betroffenen und 1.259 mutmaßlichen Tätern die Rede. Das sei jedoch nur "die Spitze der Spitze des Eisbergs", sagte Studienleiter Martin Wazlawik bei der Präsentation der Studienergebnisse am Donnerstag. Dem Forschungsverbund hätten deutlich weniger Akten zur Verfügung gestanden als etwa den Studienmachern der katholischen Studie zum sexuellen Missbrauch. So legte nur eine von 20 Landeskirchen umfassend Personalakten vor.
Hochrechnung: 9.355 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht
Auf Basis umfangreicher Daten aus einer einzigen Landeskirche und Erfahrungswerten anderer Untersuchungen haben die Wissenschaftler eine Hochrechnung vorgenommen. Den Wissenschaftlern zufolge sind demnach seit 1946 bundesweit 9.355 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht worden. Die Zahl der Beschuldigten liege bei 3.497 - davon seien ein Drittel Pfarrer oder Vikare. Bislang ging die evangelische Kirche von rund 900 Betroffenen aus. Es ist das erste Mal, dass sich ein unabhängiges Forscherteam mit dem Thema sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche beschäftigt hat.
99,6 Prozent der Beschuldigten sind männlich
Weiter heißt es in der in Hannover erstellten Studie, dass rund 64,7 Prozent der Missbrauchsbetroffenen männlich und rund 35,3 weiblich waren beziehungsweise sind. Bei den Beschuldigten handelt es sich demnach zu 99,6 Prozent um Männer. Für die Studie hat ein unabhängiges Forscherteam im Auftrag der EKD rund 4.300 Disziplinarakten, 780 Personalakten und rund 1.320 weitere Unterlagen ausgewertet. Missbrauchsfälle konnte das Forscherteam in nahezu allen Angeboten und Bereichen der evangelischen Kirche nachweisen. Bislang seien diese Fälle unzureichend erfasst und aufgearbeitet worden, sagte Studienleiter Wazlawik. Der schlechte Umgang mit Betroffenen sei demnach häufig auch aus der Haltung heraus geschehen, dass die evangelische Kirche sich als die bessere verstanden habe.
Betroffene fordert Konsequenzen und Hilfe vom Staat
Betroffenenvertreterin Katharina Kracht betonte am Donnerstag, die Studie sei nicht nur an den Zahlen zu messen. Zahlen und Daten der Kirche seien nicht wichtiger als die Betroffenen. Kracht, die als Beirat des Forschungsverbundes an der Studie mitgewirkt hat, lobte die Einbindung von rund 100 Betroffenen in der Studie - als Interviewpartnerinnen und -partner und als Co-Forschende. Sie forderte, die Aufarbeitung von Fällen und Strukturen noch stärker voranzutreiben - auch mithilfe des Staates. "Die Kirche ist für die Betroffenen kein Gegenüber", so Kracht. Benötigt würden externe Stellen, an die sich Betroffene wenden können. Darüber hinaus bräuchten Betroffene das "Recht auf Aufarbeitung". Die Studie könne daher nur ein Anfang sein. "Wenn die EKD sich jetzt wieder in die Hinterzimmer zurückziehen will, bis zur Synode, ist das eine derbe Enttäuschung für die vielen Betroffenen." Es dürfe nicht noch mehr Zeit vertrödelt werden. "Es ist genug, es ist schon lange genug."
Föderalismus "Grundpfeiler für sexuelle Gewalt"?
Auch der Betroffenensprecher Detlef Zander forderte eine übergeordnete Stelle mit Durchgriffsrechten. "Es kann nicht sein, dass jede Landeskirche machen kann, was sie möchte." Der Föderalismus in der Struktur der evangelischen Kirche sei ein "Grundpfeiler für sexuelle Gewalt" und verhindere die Aufklärung. Nun liege es an der EKD, verbindliche Standards in den Landeskirchen durchzusetzen. Dem Umgang mit Betroffenen in den Landeskirchen bezeichnete er als "unerträglich" und zum Teil so verletzend, "dass Menschen re-traumatisiert wurden".
EKD-Ratsvorsitzende bittet um Entschuldigung
Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs sagte bei der Vorstellung der Studie, Kirche und Diakonie hätten eklatant versagt und seien Betroffenen nicht gerecht geworden. "Wir haben uns auch als Institution an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht. Und ich kann sie, die sie so verletzt wurden, nur von ganzem Herzen um Entschuldigung bitten." Diese Bitte um Entschuldigung könne nur glaubwürdig sein, "wenn wir auch handeln und mit Entschlossenheit weitere Veränderungsmaßnahmen auf den Weg bringen". "Wir haben diese Studie gewollt, wir haben sie initiiert und wir nehmen sie an, mit Demut", sagte Fehrs.