Erste unabhängige Missbrauchs-Studie in der evangelischen Kirche
Am Donnerstag wird in Hannover eine bundesweite Studie über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie vorgestellt. Für Betroffene ist das ein längst überfälliger Schritt.
Sie brachen das Schweigen, erzählten von den Verbrechen und fordern Aufklärung. So wie Nancy Janz, die sich als Sprecherin des Beteiligungsforums der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) für Betroffene sexualisierter Gewalt engagiert. Mit Blick auf das Missbrauchsthema in der evangelischen Kirche sei von Betroffenenseite das Aufschreien, Anklagen und Einfordern immer nötig gewesen. "Sonst bewegt sich eine so träge Institution wie die Kirche nicht", urteilt Janz.
Schleppende Aufklärung nach 2010
Zehn Jahre nach Bekanntwerden des Missbrauchsskandals gab die evangelische Kirche im Jahr 2020 bei einem bundesweiten Forschungsverbund die unabhängige ForuM-Studie in Auftrag. Für Katharina Kracht, die sich bewusst außerhalb kirchlicher Strukturen für Betroffene einsetzt, war das ein längst überfälliger Schritt: "Man muss ganz genau und ganz kritisch auf die evangelische Kirche schauen, und man darf nicht davon ausgehen, dass sie die gute Kirche ist". Denn Missbrauch und institutionelle Vertuschung habe es auch in der evangelischen Kirche gegeben. "Die Öffentlichkeit muss hinschauen", fordert Kracht.
Auch die Kirche will wissen, was ist
Neben den Betroffenen warten auch die evangelischen Landeskirchen und die Diakonie mit Spannung auf die detaillierten Ergebnisse der Studie. Es gebe dabei eine klare Erwartungshaltung seitens der EKD, sagt die Hamburger und Lübecker Bischöfin Kirsten Fehrs, die auch amtierende EKD-Ratsvorsitzende ist: "Wir wollen wissen, wie sich Risikofaktoren in der evangelischen Kirche darstellen, dass Täter überhaupt ihre Strukturen so aufbauen können, dass Kinder und Jugendliche gefährdet sind beziehungsweise sogar sexualisierte Gewalt erleben."
Höhere Fallzahlen in evangelischer Kirche erwartet
Die unabhängige ForuM-Studie hat die evangelische Kirche insgesamt 3,6 Millionen gekostet. Sechs Teilprojekte gab es und viele Fragen: so zum Beispiel zum Umgang der Kirche mit Hinweisen auf sexualisierte Gewalt. Auch wurden Betroffene befragt, wie sie den Aufklärungswillen der Kirche erlebten. Der Zeitraum, den die Forschenden dabei untersuchten, lag zwischen 1946 und 2020. Bei der Präsentation der Studie am Mittag in der Hochschule Hannover werden auch Kennzahlen genannt, die einen Eindruck geben vom Ausmaß der sexualisierten Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie. Anfang Januar sagte dazu Fehrs im NDR: "Die Zahlen werden sicherlich höhere sein als die 858 Fälle bundesweit, die wir derzeit haben, für Diakonie und für Kirche."
858 Missbrauchsfälle sind bisher anerkannt
Gemeint sind jene 858 Fälle, in denen Betroffene sogenannte Anerkennungsleistungen für das erlittene Leid beantragt haben, bei den Landeskirchen und der Diakonie. Dabei ist klar, es gibt aber auch Meldungen von Betroffenen, die nicht in ein Anerkennungsverfahren mündeten. Die Zahl der Beschuldigten und Betroffenen wird also höher sein.
Welche Hinweise finden sich in welchen Akten?
Eine unabhängige Missbrauchsstudie im Auftrag der katholischen Kirche hatte 2018 in sämtlichen Personalakten von Geistlichen Hinweise auf bundesweit mehr als 3.600 Betroffene und rund 1.670 beschuldigte Kleriker gefunden. Die beiden Studien werden aber nicht einfach miteinander vergleichbar sein. So nahmen die Forschenden beim Studium, der von der Kirche zur Verfügung gestellten Akten, nicht nur Geistliche in den Blick, sondern auch andere Mitarbeitende der Kirche. Und Betroffene von sexualisierter Gewalt wirkten im besonderen Maße an der Studie mit, halfen als Co-Forschende bei der Erstellung von Fragebögen, teilten Wissen in Interviews über Täterstrategien und Vertuschungspraktiken der Kirche.
"Forschung muss in Regionen weitergehen"
Für die Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, ist die bundesweite ForuM-Studie ein ganz wesentlicher Schritt, um bei der Aufklärung und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in den Landeskirchen und der Diakonie weiter voranzukommen. So sollen unabhängige Aufarbeitungskommissionen auf regionaler Ebene ihre Arbeit aufnehmen. Claus erwartet, "dass deutlich konkreter als bisher Taten aufgedeckt werden, Verantwortliche auch im Kontext Kirche genannt werden." Für Claus sind viele Fragen noch unbeantwortet: "Wer hätte etwas verhindern können? Wer hat wann nicht gehandelt? Und wer trägt heute Verantwortung?"
Angemessene Entschädigungen gefordert
Die beiden Betroffenen Kracht und Janz wollen auf ihren Wegen dafür sorgen, dass das Thema sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche intensiver als in den vergangenen Jahren angegangen wird. Kracht verbindet dies grundsätzlich mit der Forderung nach angemessenen Entschädigungszahlungen in den Landeskirchen: "Die müssen viel höher sein, als es bislang der Fall war. Die Zahlungen sind noch niedriger als in der katholischen Kirche." Betroffene müssten auch unterstützt werden, damit sie nicht allein mit der Kirche um Aufarbeitung kämpfen, sagt Kracht. Die evangelische Kirche arbeitet derzeit am Aufbau einer digitalen Vernetzungsplattform für Betroffene. Für Janz ist beim Thema Missbrauch und Aufarbeitung grundsätzlich klar: "Es braucht immer wieder diesen Finger in der Wunde, damit überhaupt etwas passiert."