Pflegepersonal: Überlastungsanzeigen unterdrückt?
'Was, wenn es einem der Patienten schlecht geht und ich bekomme es nicht mit? Oder sich gar einer etwas antut?' Das waren Fragen, die Lidia Schuster an einem Tag im September 2016 beschäftigten. Seit 26 Jahren arbeitet sie als Krankenpflegerin, die meiste Zeit davon in der Psychiatrie im Fachklinikum Göttingen, das seit mehr als zehn Jahren zum Asklepios Konzern gehört.
An diesem Tag im September sollte Lidia Schuster die Spätschicht auf einer anderen Station übernehmen - als einzige examinierte Kraft. Kollegen hatten sich krank gemeldet. Lediglich eine Auszubildende sollte sie unterstützen. Zwar kannte Lidia Schuster die Abläufe auf der Station, nicht aber die Patienten. "Gerade bei Psychiatrie-Patienten ist das besonders wichtig. Manche haben Scheu, dem Pflegepersonal mitzuteilen, wenn es ihnen nicht gut geht", erklärt sie. Wie sehr man sich um die Patienten kümmern muss, könne sich auf der Psychiatrie schnell ändern, so Lidia Schuster weiter. Ihre Sorge: Für 24 ihr unbekannte Patienten ist letztlich sie allein verantwortlich.
Wenn sie eine Gefahr sehen, sollten Arbeitnehmer Gefährdungsanzeigen stellen
Von ihrem Arbeitgeber forderte sie eine weitere examinierte Kraft zur Unterstützung an, doch nur ein weiterer Schüler sollte ihr helfen. Lidia Schuster reicht das nicht: Pflegeschüler dürfen viele Aufgaben noch nicht eigenständig übernehmen. "Ich empfand es als ein Risiko. Ein Risiko, dass es zu einer Gefährdung der Patienten kommen kann", sagt sie.
Lidia Schuster tat das, was Arbeitnehmer tun sollen, wenn sie eine Gefahr sehen: Sie meldete dies ihrem Vorgesetzten. Dann schrieb sie eine sogenannte Gefährdungsanzeige. Damit gab sie der Klinik die Möglichkeit die Gefahr abzustellen, sicherte sich aber auch rechtlich ab, falls tatsächlich etwas passieren sollte.
Abmahnung und Rechtfertigung
Dieser Tag im September verlief ruhig. Alle Patienten konnten trotz der personellen Enge gut versorgt werden. "Ich hätte mir gewünscht, dass mal jemand sagt: 'Super, es ist nichts passiert, jetzt gucken wir, was man künftig ändern kann'". Doch stattdessen musste Lidia Schuster sich rechtfertigen, zunächst vor der Ebenenleitung, dann von der Pflegedienstleitung.
Kurz darauf erhielt sie eine Abmahnung. "Ich war schockiert. Ich hatte Angst - was ist wenn ich deswegen meinen Job verliere? Und irgendwann war ich auch wütend. Ich habe ja nichts falsch gemacht, lediglich meine Meinung geäußert, dazu bin ich sogar verpflichtet. Ich habe das als Bestrafung empfunden."
Seit eineinhalb Jahren streitet Lidia Schuster nun mit ihrem Arbeitgeber. Im Dezember entschied das Arbeitsgericht Göttingen eindeutig für sie. Demnach sei eine subjektive Bewertung der Situation für das Schreiben einer Gefährdungsanzeige ausreichend - Asklepios müsse die Abmahnung streichen. Auf Anfrage von Panorama 3 teilt Asklepios mit, dass Gefährdungsanzeigen im Falle einer tatsächlichen Gefährdung durchaus gewünscht seien. Bei Frau Schuster habe aus Sicht von Asklepios jedoch keine wirkliche Gefährdung vorgelegen. Und deswegen sei auch die Abmahnung erfolgt.
Drohkulisse wird aufgebaut
Für Jens Havemann von der Gewerkschaft ver.di ist dieser Prozess die letzte Eskalationsstufe in einem langen Bemühen der Arbeitgeber Gefährdungsanzeigen zu unterdrücken. "Es geht darum, eine Drohkulisse aufzubauen und ein Exempel zu statuieren", sagt er. Asklepios bestreitet das.
Jens Havenmann bezieht sich dabei nicht nur auf Asklepios, sondern auch auf Helios, den anderen großen privaten Krankenhausbetreiber in Deutschland. "Unsere Erfahrungen bei Helios und bei Asklepios sind deckungsgleich. Erst wurden von den Mitarbeitern viele Gefährdungsanzeigen gestellt, dann baute der Arbeitgeber Hürden auf oder Mitarbeiter mussten sich im Nachhinein rechtfertigen, schriftliche Stellungnahmen verfassen", sagt Havemann. Auf Nachfrage bestreiten beide Konzerne Hürden aufzubauen. Helios schreibt, man nehme Gefährdungsanzeigen "sehr ernst".
Hohe Zahl an Gefährdungsanzeigen
Dennoch, die Zahl der Gefährdungsanzeigen ist weiterhin hoch. Panorama 3 liegt eine Stichprobe von ver.di unter den norddeutschen Asklepios-Kliniken zu Überlastungsanzeigen vor. Bei sieben Einrichtungen konnte die Zahl der Gefährdungsanzeigen ermittelt werden. In einem Zeitraum von zehn Monaten kommen aus diesen sieben Kliniken mehr als 1.000 Gefährdungsanzeigen zusammen. Absoluter Spitzenreiter ist eine Klinik in Hamburg, die im besagten Zeitraum auf 427 Überlastungsanzeigen kommt. Im Schnitt sind das anderthalb Gefährdungsanzeigen jeden Tag, die die Mitarbeiter schreiben. Asklepios wollte sich zu konkreten Zahlen nicht äußern.
Die Dokumentation der Missstände würde die Arbeitgeber unter Druck setzen, sagt Jens Havemann: "In der Regel ist der Arbeitgeber nicht erfreut, wenn so eine Anzeige kommt, gerade wenn es als Mittel eingesetzt wird, kollektiv mit mehreren Beschäftigten deutlich zu machen: wir brauchen mehr Personal". Eine Abmahnung wie im Falle Schuster sei der letzte Schritt der Arbeitgeber.
Gefährdungsanzeigen "Verwässerung des Systems"?
"Ich war traurig, weil ich nichts verkehrt gemacht habe. Ich hab meine Patienten versorgt, es ist keinem was passiert. Ich habe lediglich meine Meinung kundgetan, dass es zu einer Gefährdung kommen könnte, wenn ich auf der Station allein bin", sagt Lidia Schuster.
Asklepios sieht das anders. Gegenüber Panorama 3 heißt es: "Dort wo Gefährdungs- und Überlastungsanzeigen ohne konkreten objektiven Grund erstellt werden, sind sie nicht hilfreich, sondern kontraproduktiv, da sie zu einer Verwässerung des Systems führen."
Asklepios kündigt an, gegen die Entscheidung des Arbeitsgerichtes Göttingen in Berufung zu gehen. Frau Schuster wird weiter streiten müssen.