Fehlende Ausbildung in der Notfallmedizin
20 Millionen Patienten landen in Deutschland jedes Jahr in der Notaufnahme eines Krankenhauses - Tendenz steigend. Der Ansturm auf die Notaufnahmen hat mehrere Ursachen. Eine davon ist das lange Warten auf einen Termin beim niedergelassenen Arzt, während die Notaufnahmen rund um die Uhr, sieben Tage die Woche, für jeden Patienten mit nahezu jedem Problem gerüstet sein müssen. Und häufig arbeiten dort unerfahrene Ärzte, die sich noch in der Ausbildung befinden. Die Krisenzentren der Krankenhäuser verzichten nämlich zum großen Teil auf routinierte Teams und nur ein Drittel der Notaufnahmen hat eine dauerhafte ärztliche Leitung.
Dramatische Folgen
Was für dramatische Folgen das haben kann, zeigt der Fall Aymeric Pahl. Der Hamburger war im Februar 2013 nach Berlin gezogen, um ein Praktikum zu absolvieren. Bereits vor der Abfahrt klagte der 25-Jährige über Rückenschmerzen und bekam von einem Orthopäden eine Spritze verschrieben. In Berlin verschlimmerten sich die Schmerzen. Nach zweieinhalb Stunden in der Notaufnahme des Vivantes Klinikum hatte ihn noch immer kein Arzt behandelt. Daraufhin verließ der junge Mann ohne Diagnose das Krankenhaus - er wollte an seinem zweiten Praktikumstag nicht zu spät kommen. Auf Anfrage von Panorama 3 erklärt das Vivantes Klinikum, dass es sich "zu dem konkreten Fall nicht äußern könne". Weiter heißt es: "Wenn sich ein Patient entscheidet, eines unserer Krankenhäuser vor oder während einer ärztlichen Behandlung zu verlassen, haben wir auf den weiteren Verlauf keinen Einfluss mehr." Am nächsten Tag ging Pahl nach der Arbeit erneut zu einem Orthopäden, der ihn zum Neurologen überwies.
Zwei Orthopäden und zwei Notaufnahmen
Wieder ging Pahl in die Notaufnahme. Diesmal in die renommierte Charité Benjamin Franklin. Hier schloss der Assistenzarzt der Neurologie eine neurologische Ursache für die Schmerzen aus. Eine korrekte Diagnose. Doch statt den jungen Mann an einen Kollegen zu übergeben, um die Ursache für die Schmerzen zu finden, schickte er ihn wieder nach Hause und empfahl ihm, notfalls am nächsten Tag einen Hausarzt zu konsultieren.
Wenige Stunden nachdem die Charité Benjamin Franklin den 25-Jährigen entlassen hatte, starb der Hamburger. Seine Herzmuskelentzündung war nicht erkannt worden. Auch die Charité verweist auf ein laufendes Verfahren. Gegenüber Panorama 3 heißt es weiter: "Wir bedauern den zweifelsohne tragischen Verlauf und trauern mit den Eltern über diesen schmerzhaften Verlust."
Der Vater des jungen Mannes, Matthias Pahl, kritisiert: "Der behandelnde Arzt hat den großen Fehler begangen, sich einfach nur auf seinen Fachbereich zu beschränken. Nachdem er dort nichts gefunden hatte, stellte er keine weiteren Fragen. Anstatt unseren Jungen mit seinen 25 Jahren zu sehen, der in seiner Gesamtheit als Mensch vor ihm stand - und in einer Notaufnahme nichts zu suchen hatte."
Keine speziell ausgebildeten Fachärzte für Notfallmedizin
In vielen deutschen Krankenhäusern schieben Fachärzte wie Chirurgen, Internisten oder Neurologen Dienst in der Notaufnahme. In fast allen anderen europäischen Ländern hingegen gibt es gibt es speziell ausgebildete Fachärzte für Notfallmedizin. Auch hierzulande sind sich Experten einig, dass die Notfallkliniken dringend neu aufgestellt werden müssen. Doch bisher konnten sich die Ärzteverbände dazu nicht durchringen, obwohl über die Vorteile weitestgehend Einigkeit besteht.
Der Facharzt soll eine breite Ausbildung auf allen Krankheitsfeldern beinhalten, statt sich nur auf einen Bereich - etwa die Chirurgie - zu spezialisieren. So soll der Allrounder in den überfüllten Wartehallen der Notfallklinik die dringenden von den weniger dringenden Notfällen unterscheiden können. Kommt etwa ein Patient mit Bauchschmerzen, kann die Ursache ein Herzinfarkt, eine Magenschleimhautentzündung, eine Entzündung der Gallenblase oder ein Riss der Hauptschlagader sein. Oder die letzte Mahlzeit.
Kompetenzgerangel zwischen den Fachverbänden
Die "Deutsche Gesellschaft interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin" (DGINA) fordert deshalb den breit ausgebildeten Facharzt für Notfallmedizin. Doch der Dachverband, die "Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin" (DIVI), blockierte den Vorschlag. Der Facharzt für Notfallmedizin hätte den anderen Fachärzten, etwa Chirurgen oder Internisten, bei denen traditionell die Notfallmedizin angesiedelt ist, Konkurrenz gemacht. Vergangenes Jahr schloss die DIVI die Facharzt-Befürworter der DGINA für den Vorstoß sogar aus dem Verband aus.
Nach neun Jahren lähmenden Streits sind die Arztverbände jetzt wieder auf Versöhnungskurs. Denn die Einsicht, dass Ärzte in Notfallkliniken einen breiten Blick brauchen, hat sich auch bei den etablierten Fachärzten durchgesetzt. Der Kompromiss sieht zunächst vor, dass Ärzte eine Weiterbildung machen können. Doch einen Facharzt für Notfallmedizin wird es weiterhin nicht geben.