Käßmann: "Kontakte nach Russland stärken, nicht kappen"
Der Krieg in der Ukraine sichert Gewinne und Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie. Zum Beispiel bei Rheinmetall in Unterlüß. Der NDR in Niedersachsen hat mit Margot Käßmann darüber gesprochen.
Die Geschäfte laufen gut bei Rheinmetall im Heidedörfchen Unterlüß. Das Unternehmen wird ab Montag im DAX vertreten sein, dem wichtigsten deutschen Aktienindex. Der in Düsseldorf ansässige Konzern produziert zwischen Celle und Uelzen großkalibrige Waffen, zum Beispiel für den Kampfpanzer Leopard II, Artilleriegeschütze und die Munition dafür. Der Aktienkurs von Rheinmetall hat sich seit Kriegsausbruch verdoppelt.
NDR: Hohe Gewinne, steigende Kurse, sichere Jobs. Bei vielen anderen Unternehmen würden wir uns darüber freuen. Bei Rheinmetall auch?
Margot Käßmann: Soll ich mich darüber freuen, dass Europa im letzten Jahr seine Rüstungsimporte nahezu verdoppelt hat? Das ist doch keine hoffnungsvolle Botschaft! Warum müssen wir Zeit, Intelligenz, Forschergeist und unendlich viel Geld in die Entwicklung immer perfiderer Waffen investieren? Produkte herzustellen, deren einziger Zweck darin besteht, zu töten und zu zerstören, machen zwar Aktionäre reicher, aber die Welt insgesamt ärmer: durch Abbau von Sozialleistungen und in Bezug auf Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit. Es wäre doch wesentlich sinnvoller, all die Ressourcen zu nutzen, um die Klimakatastrophe zu verhindern, Entwicklung im globalen Süden möglich zu machen und Bildung für alle bereitzustellen. Es braucht zudem mehr Investitionen in friedenserhaltende Maßnahmen wie den zivilen Friedensdienst. Für mich liegt der Weg in einer Zukunft, in der unsere Kinder und Enkelkinder in Frieden leben können in Abrüstung und nicht in Aufrüstung. Und als Christin ist für mich maßgeblich das Wort Jesu: "Selig sind, die Frieden stiften!".
NDR: Was antworten Sie Menschen, die die Ukraine mit Waffen unterstützen wollen, um die Menschen dort nicht ihrem Schicksal zu überlassen und auch, damit Putins Krieg sich nicht ausbreitet und uns noch näherkommt?
Käßmann: Natürlich treibt mich das Elend, die Zerstörung in der Ukraine um! Aber ich bin überzeugt, dass wir den Kreislauf der Gewalt durchbrechen müssen. Es gibt jetzt schon geschätzt 250.000 Tote, wie viele sollen es noch werden? Da muss schnellstmöglich ein Waffenstillstand her. Und: Der Rüstungswahn dieser Welt kann doch nicht permanent weitergehen. Demokratie stoppt Despoten. Deshalb ist es wichtig, demokratische Strukturen zu fördern. Und deshalb halte ich es für falsch, alle Kontakte zur russischen Zivilgesellschaft, die wir über Kirchen, Städte und Universitätspartnerschaften aufgebaut haben, zu kappen. Vielmehr sollten wir die kritischen Stimmen in Russland stärken, denn wir werden auch nach diesem Krieg mit Russland leben.
Zudem: Es toben derzeit 21 Kriege weltweit, von bewaffneten Bürgerkriegen, also innerstaatlichen Konflikten ganz zu schweigen. Ich meine, die Welt hat sich nicht wirklich verändert, weil uns der Krieg geographisch jetzt so nahe rückt. Der Krieg in Syrien dauert schon zwölf Jahre, der im Jemen acht Jahre. Diese Kriege ignorieren wir eher, Flüchtlinge von dort sind uns nicht willkommen. Aber auch dort ist das Elend der Bevölkerung so grauenvoll wie das der Ukrainerinnen und Ukrainer. Wie lange noch wollen wir Kriege einfach als gegeben hinnehmen? Und wen wollen wir noch aufrüsten? Die Rohinga in Myanmar, die Kurden in der Türkei, die Uiguren in China – das sind alles Menschen, deren Rechte massiv verletzt werden. Wir müssen doch andere Formen der Konfliktlösung finden.
Ich fand richtig, dass die Maxime der Bundesrepublik Deutschland bis Anfang letzten Jahres war, keine Waffen in Krisen- oder gar Kriegsgebiete zu liefern und hätte mir gewünscht, sie wäre bei dieser Haltung geblieben.
Zudem frage ich mich, warum Pazifisten immer dann derart massiv angegriffen werden, wenn der Krieg akut wird. In den Jahrzehnten, in denen kein Krieg in unserer Nähe tobte, wurden die im Hintergrund Aktiven der Friedensbewegung nicht gehört, sondern müde belächelt. Heute wird mir gesagt, es sei ja bequem, vom Sofa aus Pazifistin zu sein. Aber das gilt auch für diejenigen, die so vehement und kundig für die Lieferung von Angriffspanzern an die Ukraine plädieren. Auch sie bleiben dabei Zuhause auf dem Sofa sitzen und ziehen nicht selbst in diesen entsetzlichen Krieg.
NDR: Campino, Sänger bei den "Toten Hosen" sagt, er würde heute nicht noch einmal den Kriegsdienst verweigern, so, wie er das 1983 nach acht Monaten bei der Bundeswehr getan hat. Heute sagt er: "Wir können es uns nicht leisten, völlig wehrlos gegenüber Despoten zu sein". Hat Campino recht?
Käßmann: Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer hat sich im vergangenen Jahr verfünffacht – das ist ja auch ein Zeichen, wenn Sie jetzt Campino als Argument anführen. Ich war jahrelang Präsidentin der Beratungsstellen für Kriegsdienstverweigerer. Die jungen Männer haben mit einer Gewissensentscheidung oft schwer gerungen. Da geht es um eine Haltung, die man nicht mal eben ändert.
Übrigens wird auch dem Kriegsdienstverweigerer zugestanden, im Affekt der Selbstverteidigung zu handeln. Diesen Selbsterhaltungsaffekt gab es verständlicherweise auf Seiten der Ukraine. Jetzt aber ist es Zeit vom Affekt in den Vernunftmodus zu schalten und zu verhandeln. Tausende von toten ukrainischen und russischen Soldaten für einen Stellungskrieg um Bachmut – das hat doch mit Vernunft nichts mehr zu tun. Wenn dagegengestellt wird, es könne nur um einen absoluten Sieg der Ukraine gehen, weil der Angriff Russlands definitiv völkerrechtswidrig war, müssen wir doch auch sehen, dass wir beispielsweise Verhandlungen der Palästinenser mit Israel für gut und richtig halten, selbst wenn der UN-Sicherheitsrat die Besetzung ihrer Gebiete für völkerrechtswidrig erklärt hat. Es geht um ein Ende der Gewalt, Waffenstillstand um der Menschen willen und danach um ein Aushandeln von Möglichkeiten des Friedens.
Ich fände gut, wenn nicht nur die, die den Kriegsdienst verweigern, sondern auch jene, die sich zum Dienst an der Waffe verpflichten, eine Gewissensprüfung durchlaufen müssten. Ich respektiere Menschen, die sich dafür entscheiden. Aber sie sollten es bewusst tun.
Interessant ist, dass jetzt Pazifistinnen und Pazifisten als stur bezeichnet werden. Persönlich respektiere ich Menschen, die für Waffenlieferungen plädieren, weil ich die Emotion angesichts der grauenvollen Bilder aus der Ukraine nachvollziehen kann. Aber in einer Demokratie dürfen doch auch diejenigen, die gegen Waffenlieferungen plädieren, solchen Respekt erwarten. Das erlebe ich derzeit nicht. Stattdessen werden wir massiv diffamiert. Soll das Ziel sein, dass alle gleichgeschaltet das Hohe Lied der Waffen singen? Das wäre für einen demokratischen Diskurs unwürdig.
Als Pazifistin bleibe ich bei der Utopie, dass eine Welt ohne Waffen möglich wäre. Wenn es derzeit heißt, Russen wie Ukrainern an der Front gehe die Munition aus, könnte das ja auch bedeuten, dass das gegenseitige Töten ein Ende hat, wenn auf beiden Seiten nicht nachgeliefert wird. Keine Waffen, keine Toten.