Messerattacke in Stralsund: Staatsanwaltschaft mit Erinnerungslücken
Der Angriff auf einen Italiener in einer Stralsunder Bar bleibt rätselhaft. Laut Staatsanwaltschaft hat sich der mutmaßliche Täter, ein 64-jähriger Deutscher, schon zuvor mehrfach ausländerfeindlich geäußert. Jetzt wird der Fall auch Thema im Landtag.
"Ich habe das für Deutschland gemacht" - das soll der Täter gerufen haben, nachdem er sein Opfer niedergestochen hatte und von der Polizei abgeführt wurde. So hat es ein Augenzeuge berichtet, der sich an den NDR wandte, weil er befürchtete, dass die Behörden den Fall "vertuschen" wollten. Bis heute gebe es keine Hinweise darauf, dass der Spruch von anderen Zeugen gehört worden sei, heißt es hingegen von der Staatsanwaltschaft Stralsund, die den Fall zunächst nicht publik machte.
Grüne im Landtag fordern Klärung von Ungereimtheiten
Die Fraktionschefin der Bündnisgrünen im Landtag, Constanze Oehlrich, will mit einer Kleinen Anfrage an die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns Licht ins Dunkel bringen. "Die Ungereimtheiten bei den Ermittlungen müssen dringend aufgeklärt werden", fordert Oehlrich. Außerdem sei es sehr ungewöhnlich, dass Staatsanwaltschaft und Polizei die Öffentlichkeit nicht von sich aus über die Straftat informiert hätten.
Motiv für Staatsanwaltschaft weiter unklar
Vier Wochen sind seit der Tat vergangen - und die Staatsanwaltschaft kann nach eigenen Aussagen immer noch kein Motiv nennen. Doch ein Polizeiexperte, Siegfried Stang, hat dafür eine Theorie zum Handeln der Behörden: "In der Tatnacht, am 26. Mai, hat die Polizei einen Einsatz, nicht irgendeinen Einsatz, sondern einen Einsatz in einer Mordsache und erfüllte Mindeststandards polizeilicher Maßnahmen nicht." Etwa, dass der Tatort nach der Tat nicht sofort gesichert wurde, mutmaßt der frühere Kriminaldirektor aufgrund des Berichts eines Augenzeugen. Das sei wahrscheinlich auch den Leitungsebenen von Polizei und Staatsanwaltschaft spätestens am nächsten Morgen bekannt gewesen, so Stang.
Pressevorbehalt: Zunächst keine Veröffentlichung
Einen Tag später wird dann der Haftbefehl gegen den Beschuldigten erlassen. Und die Staatsanwaltschaft erlässt einen Pressevorbehalt - und veröffentlicht erst einmal: gar nichts. "Das ist kein Nachteil für die Polizei, sondern ist eigentlich gut für die Polizei, weil sie sich selbst dann nicht irgendwie äußern oder rechtfertigen muss", schätzt das Siegfried Stang ein. Sie müsse dann eben auch nicht zu möglichen Ermittlungspannen Auskunft geben.
Wurden "juristische Kunstgriffe" angewandt?
Zehn Tage lang verschweigen die Behörden den Fall der Öffentlichkeit. "Das ist dann eine Zeit gut gegangen, bis der NDR sich eingemischt hat und am 5. Juni Nachfrage gehalten hat zu der Angelegenheit", erläutert Stang seine Theorie. "Und - welch Wunder - schon am nächsten Tag wird die Straftat heruntergestuft, aufgrund eines juristischen Kunstgriffs und der Beschuldigte wird entlassen." Bei unserer ersten Anfrage hatte die Staatsanwaltschaft den Fall noch als Tötungsdelikt behandelt, am 6. Juni wird die Tat dann als "gefährliche Körperverletzung" bezeichnet.
Keine sofortige Wohnungsdurchsuchung
Vor allem die Wohnungsdurchsuchung beim Beschuldigten, für die - laut Staatsanwaltschaft - erst ein Gerichtsbeschluss abgewartet wurde, kommt dem ehemaligen Leiter der Polizeidienststelle Neubrandenburg suspekt vor. "Eigentlich hätte die Durchsuchung noch in der Tatnacht passieren müssen, denn wenn sobald der Beschuldigte weiß, dass gegen ihn ermittelt wird, kann er auch aus der Haft heraus Hebel in Bewegung setzen, um Dinge aus der Wohnung zu schaffen und ähnliches", so Stang. Das hätte sofort durchgeführt werden müssen. "Wenn sie erst beantragt und dann durchgeführt wird, ist sie aus meiner Sicht sinnlos." Wir fragen bei Oberstaatsanwalt Martin Cloppenburg nach, wann die Maßnahme stattgefunden hat. Seine Antwort: "Der genaue Zeitpunkt der Wohnungsdurchsuchung liegt mir nicht vor."
Zeugen: Beschuldigter schon früher ausländerfeindlich aufgefallen
Eine weitere Merkwürdigkeit ereignet sich, nachdem der NDR am 21. Juni den Fall veröffentlicht. Nur kurze Zeit später, noch am selben Tag, erscheint auch ein Onlineartikel des "Nordkurier", in der die Staatsanwaltschaft mit einer Aussage zitiert wird, die dem NDR noch nicht bekannt ist. Demnach ist der Beschuldigte laut Zeugenaussagen schon früher mit ausländerfeindlichen Sprüchen in betrunkenem Zustand in der Bar auffällig geworden. Verwunderlich ist, warum Oberstaatsanwalt Cloppenburg dem NDR diese Information vorenthalten hat, immerhin würde das zumindest den Verdacht eines fremdenfeindlichen Motivs erhärten. Auf die Nachfrage, seit wann er diese Aussagen der Augenzeugen kennt, antwortet Cloppenburg: "Den Zeitpunkt meiner persönlichen Kenntnis erinnere ich nicht."
"Von Zusammenarbeit mit Presse kann keine Rede sein"
Auf die erneute Nachfrage, ob die Messerattacke tödlich hätte enden können, antwortet Oberstaatsanwalt Cloppenburg kurz und knapp: "Die abschließende Stellungnahme der Rechtsmedizin liegt noch nicht vor." Für Siegfried Stang ist das fast schon dreist: "Sowas habe ich in meiner polizeilichen Praxis nie erlebt. Da kann von einer Zusammenarbeit mit der Presse keine Rede sein."
Vier Wochen nach der Tat gibt es also keine offiziellen Erkenntnisse zum Motiv, kein rechtsmedizinisches Gutachten und Erinnerungslücken bei der Staatsanwaltschaft. Die Landesregierung hat 20 Tage Zeit, um die Kleine Anfrage der Grünen zu beantworten.