Grenzenlos gegen Krebs: Projekt will Therapie bei Kindern verbessern
Krebserkrankungen sind nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache von Kindern. Um die Heilungschancen zu verbessern, haben sich die Unikliniken Greifswald, Stettin, Krakau und Danzig im Projekt "Temicare" zusammengeschlossen.
Die kleine Iris Marth ist gerade sieben Jahre alt, als sie plötzlich krank und schwach wird. Die Ärzte gehen erst von einer Bronchitis aus. Ein Arzt in Schwedt (Landkreis Uckermark in Brandenburg) entdeckt, dass sie am myelodysplastischen Syndrom (MDS) leidet. Ihr Knochenmark produziert nicht genug funktionstüchtige Blutzellen. Das Mädchen vom Bodensee wird nach Greifswald (Landkreis Vorpommern-Greifswald) gebracht, in die Kinderklinik zu Professor Holger Lode. "Wir können schon sehen, dass es Leukämiezellen im Knochenmark von ihr gibt. Das heißt, die Herausforderung ist jetzt, das kranke Knochenmark zu ersetzen mit einem neuen funktionierenden Knochenmark", stellt er schnell fest. Geholfen hat dabei, dass Iris Teil des Projekts "Temicare" wurde. Ein EU-gefördertes Projekt, bei dem deutsche und polnische Ärzte gemeinsam in Videokonferenzen schwierige Fälle besprechen und gemeinsam die besten Behandlungsmöglichkeiten bestimmen.
Ein Spaziergang in Rostock bringt alles ins Rollen
Der Krankenhausbesuch von Iris in Greifswald ist mittlerweile drei Jahre her. Iris ist jetzt zehn und es geht ihr wieder gut, weil schnell ein Knochenmarkspender gefunden werden konnte. Temicare gibt es immer noch und es wird auch weiter ausgebaut mit dem neuen Projekt Temicare 2.0. Temicare steht für "Telemedizinisch Integriertes deutsch-polnisches Kinderkrebszentrum in der Euroregion Pomerania“. Angefangen hat alles mit einem Spaziergang in Rostock. Holger Lode und Professor Tomasz Urasiński von der Pommerschen Medizinischen Universität Stettin hatten an einer vierteljährlichen Konferenz von Fachärzten teilgenommen. Seit Anfang der 2000er Jahre treffen sie sich in größeren Abständen. "Wir haben entschieden, dass es höchste Zeit ist, mehr zu machen, sich häufiger zu treffen", erinnert sich der Stettiner Professor. Die Lösung war Interreg.
Viel Geld von der EU für Projekte in der Grenzregion
Interreg ist ein Förderprogramm für Projekte in Grenzregionen. Gemeinsam arbeiteten Holger Lode und Tomasz Urasiński einen Förderantrag aus und erhielten schließlich die Mittel, um 2019 das Projekt Temicare zu starten. Dafür gab es rund 1,8 Millionen Euro aus dem Fonds Regionale Entwicklung (EFRE). Das erklärte Ziel des telemedizinisch integrierten Kinderkrebszentrums: Die Versorgungsqualität von Tumor- und Bluterkrankungen bei Kindern und Jugendlichen auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze verbessern. "Es ist ein virtueller Zusammenschluss von Partnern, um Expertise und Kompetenzen zu bündeln. Es geht um Wissen, das wir gegenseitig austauschen und für unsere Patienten nutzen für Diagnose und Behandlung" erklärt Holger Lode. Per Telemedizin, also die Vernetzung über regelmäßige Videokonferenzen, könne man sich nun wöchentlich statt vierteljährlich treffen und sich schneller austauschen. Auch die Eltern der kleinen Patienten dürfen bei den Besprechungen dabei sein.
Jeder Partner hat andere Kompetenzen
Durch die verschiedenen Partner sind auch verschiedene Blickwinkel möglich, weil jeder Partner andere Kompetenzen hat. Das Team um Holger Lode aus Greifswald hat eine spezielle Immuntherapie für die Behandlung von Neruoblastomen entwickelt, von Tumoren im Nervensystem. Neuroblastome sind nach Leukämie die zweithäufigste Form von Krebs bei Kindern, so Holger Lode. Die Heilungschance lag vorher bei rund 30% und konnte durch die Immuntherapie mehr als verdoppelt werden. "In Stettin liegt die Kompetenz in der Diagnostik mit bestimmten szintigraphischen und nuklearmedizinischen Methoden", erklärt der Greifswalder Professor weiter. Das Collegium Medicum der Jagiellonen-Universität in Krakau ist das nationale Referenzzentrum für die Neuroblastomerkrankung insgesamt. Und die Medizinische Universität Danzig, die als neuer Partner dabei ist, sei auf seltene Tumorerkrankungen spezialisiert.
Temicare 2.0: VR-Brillen und Künstliche Intelligenz
Mit dem neuen Projekt Temicare 2.0 wollen die Partner den Austausch in den virtuellen Raum verlagern - mit Virtual-Reality-Brillen. "Man muss sich das so vorstellen, dass ein 3D-Raum geschaffen wird, in den man eintritt als Avatar. Und dann kann man mit den Patienten und Eltern sprechen, man kann Modelle der Krankheit gemeinsam betrachten", beschreibt Professor Holger Lode. Über den Effekt der Gamification erhofft er sich, dass die Kinder und Jugendlichen mehr an der Besprechung teilhaben, dass Hemmschwellen fallen. Das Ziel ist, dass die Kinder selbst mehr über ihre Krankheit und die Behandlung verstehen. In Stettin wird zur Zeit ein Frage-Tool mit Künstlicher Intelligenz erstellt. "Wenn man über Krankheiten recherchiert - was sind da seriöse Quellen? Und wir haben gesagt, wir wollen gerne eine eigene seriöse Quelle schaffen. Auf deutsch, polnisch und englisch", sagt Projektkoordinatorin Tabea Troschke. Die KI soll die Antworten nutzergerecht herausgeben, je nachdem ob ein Erwachsener oder ein Kind die Fragen stellt.
Nicht alle Patienten sind Temicare-Patienten
In Greifswald werden jedes Jahr rund 30 neue junge Krebspatienten aufgenommen. In Stettin sind es rund 50. Aber nicht jeder von ihnen ist auch ein Fall für Temicare. Das sind nur die seltenen, herausfordernden und manchmal sehr interessanten Fälle. "Wir können bei diesen seltenen Erkrankungen selten wirklich alles wissen", sagt Holger Lode. "Innerhalb dieser seltenen Erkrankungen verbergen sich insgesamt 150 unterschiedliche Krebserkrankungen. Man benötigt also eine irrsinnige Spezialisierung, um eine kompetente Behandlung und Diagnostik durchzuführen. Mit Temicare können wir das leisten."
Was die Patienten von Temicare halten, was noch im Projekt Temicare 2.0 geplant ist und wieso eine neue App vor allem jungen Ärzten helfen könnte - all das hören Sie in der neuen Folge von "MV im Fokus". Die gibt es ab sofort zum Download unter www.ndr.de/radiomv/podcasts, in der ARD Audiothek und in der NDR MV App.