Grenzenlos gegen Krebs: Projekt will Therapie bei Kindern verbessern

Stand: 26.09.2024 06:00 Uhr

Krebserkrankungen sind nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache von Kindern. Um die Heilungschancen zu verbessern, haben sich die Unikliniken Greifswald, Stettin, Krakau und Danzig im Projekt "Temicare" zusammengeschlossen.

von Konrad Buchwald

Die kleine Iris Marth ist gerade sieben Jahre alt, als sie plötzlich krank und schwach wird. Die Ärzte gehen erst von einer Bronchitis aus. Ein Arzt in Schwedt (Landkreis Uckermark in Brandenburg) entdeckt, dass sie am myelodysplastischen Syndrom (MDS) leidet. Ihr Knochenmark produziert nicht genug funktionstüchtige Blutzellen. Das Mädchen vom Bodensee wird nach Greifswald (Landkreis Vorpommern-Greifswald) gebracht, in die Kinderklinik zu Professor Holger Lode. "Wir können schon sehen, dass es Leukämiezellen im Knochenmark von ihr gibt. Das heißt, die Herausforderung ist jetzt, das kranke Knochenmark zu ersetzen mit einem neuen funktionierenden Knochenmark", stellt er schnell fest. Geholfen hat dabei, dass Iris Teil des Projekts "Temicare" wurde. Ein EU-gefördertes Projekt, bei dem deutsche und polnische Ärzte gemeinsam in Videokonferenzen schwierige Fälle besprechen und gemeinsam die besten Behandlungsmöglichkeiten bestimmen.

Ein Mädchen wird von einem Arzt per Ultraschall untersucht. Ihre Eltern stehen neben ihr. © NDR
Professor Holger Lode untersucht die kleine Patientin Iris mit einem Ultraschallgerät. Sie ist in der Kinderklinik Greifswald Teil des Projekts "Temicare". (Archivbild)
Ein Spaziergang in Rostock bringt alles ins Rollen

Der Krankenhausbesuch von Iris in Greifswald ist mittlerweile drei Jahre her. Iris ist jetzt zehn und es geht ihr wieder gut, weil schnell ein Knochenmarkspender gefunden werden konnte. Temicare gibt es immer noch und es wird auch weiter ausgebaut mit dem neuen Projekt Temicare 2.0. Temicare steht für "Telemedizinisch Integriertes deutsch-polnisches Kinderkrebszentrum in der Euroregion Pomerania“. Angefangen hat alles mit einem Spaziergang in Rostock. Holger Lode und Professor Tomasz Urasiński von der Pommerschen Medizinischen Universität Stettin hatten an einer vierteljährlichen Konferenz von Fachärzten teilgenommen. Seit Anfang der 2000er Jahre treffen sie sich in größeren Abständen. "Wir haben entschieden, dass es höchste Zeit ist, mehr zu machen, sich häufiger zu treffen", erinnert sich der Stettiner Professor. Die Lösung war Interreg.

Weitere Informationen
Podcastbild zum Podcast "MV im Fokus" © NDR Foto: [M]
30 Min

Grenzenlos gegen Krebs: Projekt will Therapie bei Kindern verbessern

Krebserkrankungen sind nach Unfällen die zweithäufigste Todesursache von Kindern. Um die Heilungschancen zu verbessern, haben sich die Unis Greifswald, Stettin, Krakau und Danzig im Projekt "Temicare" zusammengeschlossen. 30 Min

Viel Geld von der EU für Projekte in der Grenzregion

Teilnehmer einer Videokonferenz sind in mehreren Fenstern auf einem Fernsehbildschirm zu sehen. © NDR
Die Temicare-Partner haben Videokonferenz-Technik angeschafft, um sich einmal wöchentlich treffen zu können. Sie besprechen komplizierte Fälle. Auch die Eltern können dabei sein. (Archivbild)

Interreg ist ein Förderprogramm für Projekte in Grenzregionen. Gemeinsam arbeiteten Holger Lode und Tomasz Urasiński einen Förderantrag aus und erhielten schließlich die Mittel, um 2019 das Projekt Temicare zu starten. Dafür gab es rund 1,8 Millionen Euro aus dem Fonds Regionale Entwicklung (EFRE). Das erklärte Ziel des telemedizinisch integrierten Kinderkrebszentrums: Die Versorgungsqualität von Tumor- und Bluterkrankungen bei Kindern und Jugendlichen auf beiden Seiten der deutsch-polnischen Grenze verbessern. "Es ist ein virtueller Zusammenschluss von Partnern, um Expertise und Kompetenzen zu bündeln. Es geht um Wissen, das wir gegenseitig austauschen und für unsere Patienten nutzen für Diagnose und Behandlung" erklärt Holger Lode. Per Telemedizin, also die Vernetzung über regelmäßige Videokonferenzen, könne man sich nun wöchentlich statt vierteljährlich treffen und sich schneller austauschen. Auch die Eltern der kleinen Patienten dürfen bei den Besprechungen dabei sein.

Jeder Partner hat andere Kompetenzen

Durch die verschiedenen Partner sind auch verschiedene Blickwinkel möglich, weil jeder Partner andere Kompetenzen hat. Das Team um Holger Lode aus Greifswald hat eine spezielle Immuntherapie für die Behandlung von Neruoblastomen entwickelt, von Tumoren im Nervensystem. Neuroblastome sind nach Leukämie die zweithäufigste Form von Krebs bei Kindern, so Holger Lode. Die Heilungschance lag vorher bei rund 30% und konnte durch die Immuntherapie mehr als verdoppelt werden. "In Stettin liegt die Kompetenz in der Diagnostik mit bestimmten szintigraphischen und nuklearmedizinischen Methoden", erklärt der Greifswalder Professor weiter. Das Collegium Medicum der Jagiellonen-Universität in Krakau ist das nationale Referenzzentrum für die Neuroblastomerkrankung insgesamt. Und die Medizinische Universität Danzig, die als neuer Partner dabei ist, sei auf seltene Tumorerkrankungen spezialisiert.

Temicare 2.0: VR-Brillen und Künstliche Intelligenz

Professor Holger Lode sitzt auf einem Stuhl mit einer VR-Brille auf dem Kopf. © Screenshot
Im Projekt Temicare 2.0 werden VR-Brillen angeschafft, damit sich die Mediziner in einem virtuellen Raum treffen können.

Mit dem neuen Projekt Temicare 2.0 wollen die Partner den Austausch in den virtuellen Raum verlagern - mit Virtual-Reality-Brillen. "Man muss sich das so vorstellen, dass ein 3D-Raum geschaffen wird, in den man eintritt als Avatar. Und dann kann man mit den Patienten und Eltern sprechen, man kann Modelle der Krankheit gemeinsam betrachten", beschreibt Professor Holger Lode. Über den Effekt der Gamification erhofft er sich, dass die Kinder und Jugendlichen mehr an der Besprechung teilhaben, dass Hemmschwellen fallen. Das Ziel ist, dass die Kinder selbst mehr über ihre Krankheit und die Behandlung verstehen. In Stettin wird zur Zeit ein Frage-Tool mit Künstlicher Intelligenz erstellt. "Wenn man über Krankheiten recherchiert - was sind da seriöse Quellen? Und wir haben gesagt, wir wollen gerne eine eigene seriöse Quelle schaffen. Auf deutsch, polnisch und englisch", sagt Projektkoordinatorin Tabea Troschke. Die KI soll die Antworten nutzergerecht herausgeben, je nachdem ob ein Erwachsener oder ein Kind die Fragen stellt.

Nicht alle Patienten sind Temicare-Patienten

In Greifswald werden jedes Jahr rund 30 neue junge Krebspatienten aufgenommen. In Stettin sind es rund 50. Aber nicht jeder von ihnen ist auch ein Fall für Temicare. Das sind nur die seltenen, herausfordernden und manchmal sehr interessanten Fälle. "Wir können bei diesen seltenen Erkrankungen selten wirklich alles wissen", sagt Holger Lode. "Innerhalb dieser seltenen Erkrankungen verbergen sich insgesamt 150 unterschiedliche Krebserkrankungen. Man benötigt also eine irrsinnige Spezialisierung, um eine kompetente Behandlung und Diagnostik durchzuführen. Mit Temicare können wir das leisten."

Was die Patienten von Temicare halten, was noch im Projekt Temicare 2.0 geplant ist und wieso eine neue App vor allem jungen Ärzten helfen könnte - all das hören Sie in der neuen Folge von "MV im Fokus". Die gibt es ab sofort zum Download unter www.ndr.de/radiomv/podcasts, in der ARD Audiothek und in der NDR MV App.

Weitere Informationen
Podcastbild zum Podcast "MV im Fokus" © NDR Foto: [M]

MV IM FOKUS – Darüber spricht Mecklenburg-Vorpommern!

Der Podcast mit NDR ReporterInnen aus MV - sie berichten unterhaltsam von wichtigen Themen vor ihrer Haustür. mehr

Das sogenannte SPECT CT ist ein modernen Gerät, das zwei Verfahren kombiniert: Die Computertomographie und die Single-Photon-Emissions-Tomographie. © Universitätsmedizin Greifswald Foto: Christian Arns

Greifswald: Neues Gerät zur Behandlung von krebskranken Kindern

An der Universitätsmedizin Greifswald ist ein neues Gerät in Betrieb genommen worden, das sowohl die Diagnose als auch die Therapiemöglichkeiten bei krebskranken Kindern verbessern soll. mehr

MRT © Screenshot

So jung und schon Krebs?

Weltweit erkranken immer mehr junge Menschen an Krebs. Frühere Vorsorgeuntersuchungen könnten zumindest bei einigen Krebsarten helfen. Doch Patientinnen und Patienten berichten, dass sie von ihren Ärzten nicht ernst genommen wurden. mehr

NDR 1 Radio MV - Dorf Stadt Kreis: Annette Ewen und Mirja Freye © iStock Foto: golero
32 Min

#120 Pomerania - Was passiert mit den EU Millionen für das Grenzgebiet?

Seit Ende März können Vereine, Verbände, Unternehmen und Kommunen in der deutsch-polnischen Grenzregion bei der EU Geld für Projekte beantragen – über das Förderprogramm Interreg VI A. Bis 2027 stehen dafür insgesamt 116,4 Millionen Euro bereit. 32 Min

Ein Labor-Mediziner hält ein Reagenzglas in die Höhe. Im Vordergrund des Bildes sind grafische Elemente wie DNA und eine Lupe zu sehen. © Panther Media Foto: mikkolem

Greifswalder Forscher wollen Gesundheitssystem verbessern

Seit mehr als 20 Jahren untersucht das Institut für Community Medicine die Bevölkerung in Vorpommern und ganz Deutschland. mehr

Im Tierparkt von Ueckermünde können Besucher viele Tiere anfassen und füttern. © NDR/Ulrich Koglin

Viel Geld für die deutsch-polnische Grenzregion: Was passiert damit?

Thema im Podcast: Für die deutsch-polnische Grenzregion stehen bis 2027 rund 116,4 Millionen Euro EU-Fördergelder bereit. mehr

Dieses Thema im Programm:

Nordmagazin | 26.09.2024 | 19:30 Uhr

Mehr Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern

Bunt gekleidete Teilnehmer beim ersten Christopher Street Day in Wismar. © dpa-Bildfunk Foto: Stefan Sauer

Schutz für Schwule und Lesben: Landtags-AfD sorgt für Eklat

Ein AfD-Abgeordneter hat im Parlament in Schwerin queere Menschen in die Nähe von Pädophilen gerückt. mehr

Die Applikation App WhatsApp ist auf dem Display eines Smartphones zu sehen. © picture alliance/dpa Foto: Silas Stein

Im Handy abonnieren: Die NDR MV Nachrichten bei Whatsapp

Im NDR MV Whatsapp-Kanal gibts die wichtigsten Themen für Mecklenburg-Vorpommern kompakt und schnell zusammengefasst. extern