So jung und schon Krebs?

Stand: 12.09.2024 14:00 Uhr

Weltweit erkranken immer mehr junge Menschen an Krebs. Frühere Vorsorgeuntersuchungen könnten zumindest bei einigen Krebsarten helfen. Doch Patientinnen und Patienten berichten, dass sie von ihren Ärzten nicht ernst genommen wurden.

von Tina Soliman

Minka © Screenshot
Krebspatientin Minka wünscht sich, dass junge Menschen besser untersucht und von Ärzten ernst genommen werden.

Dass auch junge Menschen an Krebs erkrankt sein könnten, ist für manche Ärzte offenbar unvorstellbar. Immer wieder werden junge Erwachsene mit deutlichen Symptomen weggeschickt. Wie etwa die 38-jährige Minka: "Ich hatte immer wieder Bauchweh und musste ganz oft aufs Klo, manchmal zwanzigmal am Tag. Auch an Gewicht habe ich verloren. Ich habe dem Arzt gesagt, dass ich Blut im Stuhl habe." Doch der habe sie kaum angeguckt, sagt Minka. "Ich denke mal, dass er mich auch nicht ernst genommen hat, meinte wohl, ich übertreibe es, 'die ist noch so jung'. Er sagte nur: 'Vielleicht verzichten Sie mal auf Kaffee.'" Als Minka es kaum noch aushält, bekommt sie Monate später eine Überweisung zur Darmspiegelung. Doch der Krebs hatte schon in die Leber gestreut.

Experte sieht Zunahme bei Darm- und Brustkrebs

Kurt Straif © Screenshot
Krebsexperte Straif konstatiert einen Anstieg der Krebserkrankungen bei jungen Menschen.

Kurt Straif hat 20 Jahre bei der Internationalen Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation WHO in leitender Funktion gearbeitet. Kaum jemand kennt die internationale Studienlage so gut wie er. Ihm zufolge erkranken immer mehr junge Erwachsene an Darm- und Brustkrebs: "Ich stütze meine Einschätzung auf die besten qualitätsgeprüften Krebsregister-Daten, die von der Internationalen Krebsforschungsagentur der WHO ausgewertet werden. Und diese zeigen ganz klar für Deutschland, dass bei Darmkrebs zum Beispiel bei Männern durchschnittlich über die letzten Jahre eine Zunahme von sieben Prozent und bei Frauen eine Zunahme von fast fünf Prozent erfolgte."

Für Brustkrebs bei Frauen zwischen 20 und 49 Jahren gehe er davon aus, dass die Zahl der Neuerkrankungen zwischen 2003 und 2017 um 20 Prozent zugenommen habe.

Das Gesundheitsministerium versucht zu beruhigen

Was sagt Gesundheitsminister Karl Lauterbach dazu? Ein Interview mit Panorama lehnt er ab. Auf eine schriftliche Anfrage erklärt das Ministerium:

  • Die jährliche Anzahl neuer Krebserkrankungen bei 20- bis 50-Jährigen in Deutschland sinke seit etwa 2008

  • Die jährlichen Neuerkrankungszahlen für häufige Krebserkrankungen in diesem Altersbereich sänken größtenteils seit etwa 2010

  • Die jährlichen Veränderungen der Neuerkrankungsraten lägen deutlich unter den zitierten fünf bis sieben Prozent

Widerspruch vom Krebsexperten

Krebsexperte Straif findet die Statements des Gesundheitsministeriums mindestens "irritierend". Man dürfe nicht alle "Krebsarten in einen Topf" werfen, sondern müsse "spezifisch für besondere Krebserkrankungen in der entsprechenden Altersgruppe der unter 50-Jährigen untersuchen und da auch die Neuerkrankungen und nicht die Sterblichkeit untersuchen", sagt der Wissenschaftler.

Frühere Vorsorgeuntersuchungen könnten helfen

Nicht bei allen, aber bei einigen Krebsarten liegt der Schlüssel in der Vorsorge. Darmkrebserkrankungen etwa seien tragisch und unnötig, denn dies sei "fast eine überflüssige Erkrankung", sagt Dirk Jäger, Leiter des klinischen Bereichs des Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT): "Wie kann ich eine Krebserkrankung verhindern? Einfaches Beispiel ist das Darmkrebs-Screening. Da kann man mit regelhaften Endoskopien, Darmspiegelungen die Vorstadien einer Tumorerkrankung identifizieren und entfernen und damit ganz klar Krebs verhindern." Ein früheres Screening sei "die beste Möglichkeit", sagt der Onkologe. Er rät: "Vorsorge sehr viel mehr und früher. Deutlich früher! Das adressiere ich an die Politik, die für das Gesundheitssystem verantwortlich ist."

Ärztin für mehr Vorsorge auch bei Brustkrebs

Ursula Scholz © Screenshot
Brustkrebserkrankungen könnten mit früheren Screenings besser behandelt werden, sagt Chefärztin Scholz.

"Die häufigste Todesursache bei jungen Frauen unter 35 ist eine Brustkrebserkrankung", warnt Ursula Scholz, Chefärztin des Brustzentrums der Asklepios Klinik Hamburg-Barmbek. Auch sie fordert mehr Vorsorge: "Ich würde es auf jeden Fall befürworten, das Screening bei jungen Frauen nach vorne zu verschieben." Im Moment starte das ab dem 50. Lebensjahr, sollte nach Scholz' Auffassung aber auch bei jüngeren Frauen unter 40 mit angeboten werden: "Das sollte die Politik auf jeden Fall ändern, sodass den Frauen eine Ultraschalluntersuchung einmal im Jahr angeboten werden kann und auch die Kassen diese Leistung übernehmen."

Gesundheitspolitiker zeigt sich skeptisch

Armin Grau © Screenshot
Gesundheitspolitiker Grau (Grüne) fürchtet, dass falsch-positive und falsch-negative Befunde Menschen beunruhigen könnten.

Armin Grau, Gesundheitspolitiker der Grünen-Fraktion im Bundestag und selbst Mediziner, zeigt sich gegenüber den Forderungen nach früheren Screenings skeptisch: "Man kann Menschen auch sehr beunruhigen durch zweifelhafte Befunde. Man muss eben bei Screenings darauf achten, dass nicht falsch-positive und falsch-negative Ergebnisse erzielt werden. Es gibt dann Folgeuntersuchungen, die eingreifend sind, die selbst auch Komplikationen nach sich ziehen können."

Dieses Argument lässt Krebsexperte Straif nicht gelten: "Es gibt bei fast allen Screening-Untersuchungen, bei fast allen medizinischen Untersuchungen, falsch-positive Befunde. Das geht aber alles rein in die Bewertung von Screening-Vorsorgeverfahren und speziell für Darmkrebs und für Brustkrebs. Das sollte jetzt nicht dazu dienen, eben gegen diese Früherkennungsprogramme und auch gegen die Vorverlegung dieser Früherkennungsprogramme zu argumentieren." Es gäbe keinen Grund zu warten. "Es gibt nur sehr wenige Krebserkrankungen, wo Vorsorgeuntersuchungen wirklich etabliert und effektiv sind. Aber diejenigen, die hier ansteigen, Darmkrebs und Brustkrebs, da funktioniert es", sagt Straif.

Sorgt mehr Früherkennung zu steigenden Zahlen?

Bildschirm zeigt eine Darmspiegelung © Screenshot
Bildschirm bei einer Darmspiegelung: Darmkrebs kann mit Vorsorgeuntersuchungen sehr gut erkannt und früh bekämpft werden.

Grau ist hingegen der Meinung, dass die Anstiege bei bestimmten Krebsarten mit den Vorsorgeuntersuchungen zu tun haben: "Man muss bei manchen Anstiegen auch sehr darauf achten und beachten, dass Screening-Programme, Vorsorgeuntersuchungen eben natürlich auch dazu führen, dass Krebs früher und dadurch auch etwas häufiger entdeckt wird, zumindest über eine bestimmte Zeit hin."

Dem widerspricht Straif vehement: "Das ist völlig quergedacht, weil aktuell die Vorsorgeuntersuchung für Darmkrebs und Brustkrebs bei 50 anfangen. Zusätzlich wird bei Darmkrebs sogar die Neuerkrankungsrate gesenkt, weil ich Vorstufen, Polypen et cetera entfernen kann. Das kann also nicht die Zunahme bei den unter 50-Jährigen erklären. Das versteht eigentlich ein Grundschulkind", sagt Straif. "Der Logik, dass nicht vorhandene Früherkennungsuntersuchungen in den jüngeren Altersgruppen zu dem Anstieg führen, kann ich überhaupt nicht folgen."

Krebs nimmt weltweit zu

Selbst wenn bei einigen Krebsarten, wie etwa bei Lungenkrebs, die Zahlen sinken würden, sei das kein Grund zur Entwarnung, sagt Straif, denn der globale Trend sei eindeutig: "Es gibt einen Anstieg bei jüngeren Erwachsenen unter 50 Jahren. Und das ist ein Phänomen, das sich weltweit zeigt, auch in Deutschland. Das betrifft insbesondere Darmkrebs, aber auch andere Krebserkrankungen wie Brustkrebs, Gebärmutterkrebs oder auch Nierenkrebs."

Weitere Informationen
Logo der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs © DSFJEMK

Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs

Die Stiftung will junge Erwachsene zwischen 18 und 39 Jahren, die an Krebs erkrankt sind, unterstützen und die Forschung fördern. extern

Warum immer mehr junge Menschen an bestimmten Krebsarten erkranken, ist bis heute nicht geklärt: Falsche Ernährung, Zucker, zu viel Gewicht, zu wenig Bewegung, Rauchen, Umweltgifte? Die eine Ursache gibt es wohl nicht. 

"Einer der wichtigsten Risikofaktoren für Dickdarmkrebs zwischen 30 und 50 ist Gewichtszunahme, also Übergewicht. Wir sehen eine Verschiebung in nur 30 Jahren zum globalen Übergewicht, und das ist einer der größten Risikofaktoren, insbesondere in der westlichen Welt, für die Entwicklung von Tumorerkrankungen im jungen Alter, und da müssen wir gegensteuern", so der Ärztliche Direktor der Klinik für Allgemein- und Viszeralchirurgie der Universität Freiburg, Stefan Fichtner-Feigl. 

Werden junge Patienten nicht ernst genommen?

Nadine © Screenshot
Der erste Knoten in ihrer Brust wurde nicht als Krebs erkannt, erzählt Nadine, damals 28 Jahre alt.

Doch wir treffen in den vielen Gesprächen mit an Krebs erkrankten jungen Menschen hauptsächlich auf schlanke, sportliche Menschen, die weder geraucht noch getrunken haben. Junge Leute wie Benni oder Nadine.

Auch Nadine, heute 35 Jahre alt, kritisiert, dass ihr Arzt sie mit einem Knoten in der Brust zunächst wieder nach Hause geschickt hat. Damals war sie 28. Als sie sich ein halbes Jahr später im Krankenhaus einer Biopsie unterzieht, hatte sich schon ein zweiter Knoten in ihrer Brust gebildet. Es folgte eine aggressive Chemotherapie, OPs, Komplikationen, eine Mastektomie. Kinder kann sie keine mehr bekommen, und bevor sie 40 Jahre alt wird, muss sie ihre Eierstöcke entfernen lassen. Natürlich fragt Nadine sich, ob es so weit hätte kommen müssen, wenn man ihren Krebs früher erkannt hätte. "Ich finde, man wird gar nicht mehr gut untersucht. Man müsste doch gerade bei uns jungen Menschen - die noch so viel Leben vor sich haben sollten - ein bisschen sorgsamer sein."     

Benni © Screenshot
Glück im Unglück: Bei einer außerplanmäßigen Darmspiegelung wird bei Benni Darmkrebs früh genug entdeckt.

Der 38-jährige Benni hatte Glück, dass sein Dickdarmkrebs bei einer außerplanmäßigen Darmspiegelung früh entdeckt wurde. Als er die Diagnose erhielt, war er 34 Jahre alt:  "Ich habe viel Kraftsport gemacht und habe dann gemerkt, dass ich über die Monate schwächer werde, dass ich Gewicht verliere. Dann bin ich aber zum Hausarzt, weil noch Blut im Stuhl dazu kam. Und dann hat er gesagt: 'Geh doch mal lieber zur Darmspiegelung.'"

Dieser Satz kann Leben retten. Denn je später die Diagnose, desto fortgeschrittener die Tumorerkrankung und aggressiver die Therapie - und desto schlechter die Prognose: "Wir sind in der Onkologie nach wie vor viel zu schlecht", sagt NCT-Direktor Jäger. "Es sterben viel zu viele Patienten an einer Erkrankung, und wir dürfen uns nicht in eine Scheinsicherheit begeben, wo wir glauben, das Thema Krebs in absehbarer Zeit in den Griff zu bekommen. Das werden wir nicht."

In Gedenken an Minka

Minka starb ein Jahr und vier Monate nach der Diagnose. Sie hinterlässt einen Mann und zwei kleine Kinder. Sie wollte, dass ihr Interview veröffentlicht wird. Am Ende des Interviews wünschte Minka sich, "dass junge Leute besser untersucht werden, dass die Ärzte uns ernst nehmen". Und: Junge Menschen sollten sich nicht schämen, mit unangenehmen Symptomen zum Arzt zu gehen, "und wenn man zum Arzt kommt, dann hat man was und dann möchte man Hilfe haben und wenn man die nicht bekommt, fühlt es sich nicht gut an".

Unser Mitgefühl gilt ihrem Mann und den beiden kleinen Kindern. Wir danken Minka, die mit uns gesprochen hat, als es ihr schon schlecht ging, für ihre Offenheit.

 

Weitere Informationen
Logo der Deutschen Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs © DSFJEMK

Deutsche Stiftung für junge Erwachsene mit Krebs

Die Stiftung will junge Erwachsene zwischen 18 und 39 Jahren, die an Krebs erkrankt sind, unterstützen und die Forschung fördern. extern

 

Weitere Informationen
Grafik: so viele Orte in Deutschland sind mit dem Jahrhundertgift PFAS verseucht © NDR/ARD

Jahrhundertgift PFAS: Wie verseucht ist Deutschland?

An mehr als 1.500 Orten lässt sich in Deutschland das Jahrhundertgift PFAS nachweisen. Das Problem ist damit viel größer, als bisher bekannt war. Auf einer interaktiven Karte sind die nachgewiesenen PFAS-Belastungen verzeichnet. mehr

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 12.09.2024 | 21:45 Uhr

Über Panorama

Kalender © Fotolia.com Foto: Barmaliejus

Panorama-Geschichte

Als erstes politisches Fernsehmagazin ging Panorama am 4. Juni 1961 auf Sendung. Die Geschichte von Panorama ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. mehr

Anja Reschke © Thomas & Thomas Foto: Thomas Lueders

60 Jahre Panorama

60 Jahre investigativ - unbequem - unabhängig: Panorama ist das älteste Politik-Magazin im deutschen Fernsehen. mehr

Panorama 60 Jahre: Ein Mann steht hinter einer Kamera, dazu der Schriftzug "Panorama" © NDR/ARD Foto: Screenshot

Panorama History Channel

Beiträge nach Themen sortiert und von der Redaktion kuratiert: Der direkte Einstieg in 60 Jahre politische Geschichte. mehr

Das Logo von #NDRfragt auf blauem Hintergrund. © NDR

Umfrage zu künstlicher Intelligenz: Eher Chance oder Risiko?