Der Fall Amri und Mecklenburg-Vorpommern
Viereinhalb Jahre nach dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz werden Informationen bekannt, die Zweifel wecken: zum Einen an den Ermittlungen der Behörden, zum Anderen an den bisher veröffentlichen Erkenntnissen des Tathergangs. Neue Gutachten und Recherchen des NDR Mecklenburg-Vorpommern befeuern die Debatte.
Am 19. Dezember 2016 fährt ein Lkw in die Menschenmenge des Weihnachtsmarkts auf dem Berliner Breitscheidplatz, elf Menschen sterben, 67 werden verletzt. Das Bundeskriminalamt und die Bundesanwaltschaft gehen bis heute davon aus, dass der Terrorist Anis Amri ein Einzeltäter mit Verbindung zur Organisation "Islamischer Staat" war. Schon kurz nach dem Anschlag liefert ein Verbindungsmann aus Mecklenburg-Vorpommern andere Hinweise. Doch die werden vom Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommerns nicht an die Ermittlungsbehörden weitergegeben. Und ein Terrorismus-Experte ist sich sicher: Bis heute kennt die Öffentlichkeit nicht alle Hintergründe zum Fall Amri.
Zweifel an Expertenkommission
Auf den Stufen zur Berliner Gedächtniskirche werden sie immer wieder abgelegt: Blumen und Kerzen zum Gedenken an die Opfer des Terroranschlags vom Dezember 2016. Doch in der Öffentlichkeit spielt das Thema kaum noch eine Rolle, nur ab und zu gibt es Nachrichten aus dem Amri-Untersuchungsausschuss des Bundestags, die vermeldet werden. Gerade erst wieder, als neue Gutachten bekannt wurden, die Zweifel an den bisherigen Ermittlungsergebnissen laut werden lassen. Oder als Ende vergangenen Jahres Zeugen aus Mecklenburg-Vorpommern im Ausschuss befragt werden. Der Chef des Landesverfassungsschutzes muss zugeben, dass acht Hinweise eines V-Manns vom Februar 2017 zur Flucht von Anis Amis und zu möglichen Unterstützern in der islamistischen Szene Berlins nicht an den Generalbundesanwalt weitergegeben wurden. Eine Expertenkommission des Innenministeriums MV ermittelt in dieser Sache noch, doch eines ist schon jetzt klar: Im Fall Breitscheidplatz sind noch jede Menge Fragen offen. War Anis Amri wirklich ein Einzeltäter? Hat er wirklich den Lkw allein in die Menge auf dem Weihnachtsmarkt gelenkt?
Ein Rücktritt, aber keine Lösung
Der Chef des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern, Reinhard Müller, hatte persönlich entschieden, die Hinweise des V-Manns nicht an die Ermittlungsbehörden weiterzuleiten. Bekannt geworden war der Vorgang erst, als ein ehemaliger Mitarbeiter der Behörde den Generalbundesanwalt darüber informiert hatte. Müller musste deshalb im Januar diesen Jahres seinen Hut nehmen. Für die Spitzenkandidatin der Grünen zur Bundestagswahl in MV reicht das nicht. Claudia Müller fordert weitergehende Konsequenzen: "Es ist zwar der Chef gegangen, aber ansonsten haben sich die Strukturen an dieser Stelle nicht verändert." Es brauche neue Strukturen im Verfassungsschutz des Landes, so Müller. Für die grüne Bundestagsabgeordnete ist die Theorie vom Einzeltäter Amri längst vom Tisch. Für sie steht fest, dass die Hinweise des V-Manns noch einmal genau geprüft werden müssen. Und nicht nur das: "Wir müssen uns im Verfassungsschutz noch mal anschauen, ob nicht auch andere Informationen nicht so behandelt wurden, wie sie behandelt hätten werden müssen, möglicherweise auch nicht weitergegeben worden sind, die jetzt zur Aufklärung beitragen könnten", so Müller.
Ein Experte zweifelt an Amris Rolle beim Anschlag
Dass der Fall Amri vom Generalbundesanwalt neu aufgerollt werden müsse, das denkt auch der Terrorismusforscher Nicolas Stockhammer von der Universität Wien. Stockhammer ist einer der renommiertesten Experten in diesem Bereich in Europa, er hat an der Berliner Humboldt-Universität studiert und berät unter anderem das österreichische Verteidigungsministerium. Er glaubt, dass Amri nicht allein gehandelt hat: "Nach meiner derzeitigen Einschätzung sehe ich auf jeden Fall, dass er Unterstützung hatte und kein reiner Einzeltäter war. Die Minimalvariante ist Einzeltäter mit Anleitung, die Maximalvariante ist ein von einer Zelle ausgehender Anschlag mit einer größeren Unterstützung." Dafür sprächen auch die Hinweise des V-Manns, der für den Verfassungsschutz Mecklenburg-Vorpommerns 2016/2017 Informationen sammelte. Er berichtete über einen Familienclan in Berlin, der Amri für den Anschlag bezahlt habe. Und diese Auftraggeber seien hinterher enttäuscht gewesen - weil es relativ wenig Tote gegeben habe. "Das nächste Mal machen wir's richtig" sei nach dem Anschlag gesagt worden, berichtet der V-Mann.
Gutachten stellt Amris Einzeltäterschaft in Frage
Auch neue Gutachten, die erst vier Jahre nach dem Anschlag für den Amri-Untersuchungsausschuss des Bundestags erstellt wurden, werfen neue Fragen auf. Das Uni-Klinikum Schleswig-Holstein hat DNA-Spuren in der Führerkabine des Lkw untersucht. Danach findet sich dort genau soviel DNA einer unbekannten Person wie von Anis Amri. Es könne nicht sicher gesagt werden, ob Amri den Lkw zum Zeitpunkt des Terroranschlags gelenkt oder sich nur auf dem Beifahrersitz aufgehalten habe, so das Gutachten. Anfang März im Berliner Abgeordnetenhaus taucht ein weiteres Rätsel auf - vor dem Amri-Untersuchungsausschuss des Landesparlaments sagt ein ehemaliger Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Mecklenburg-Vorpommern aus. Er erwähnt dabei auch einen weiteren Hinweis des V-Manns auf einen Freund von Anis Amri, dem Tunesier Belil Ben Ammar. Ben Ammar wurde wenige Wochen nach dem Terroranschlag aus Deutschland abgeschoben. Schon 2017 warfen Medien die Frage nach dem Warum auf. Der Focus schrieb, Ben Ammar sei Mitarbeiter des marokkanischen Geheimdienstes gewesen, andere vermuten, dass er auch V-Mann des Bundesamtes für Verfassungsschutz gewesen sei. Terrorismus-Forscher Stockhammer glaubt, dass Ben Ammar zumindest Mitwisser des Anschlags war: "Davon gehe ich aufgrund der derzeitigen Kenntnislage aus. Ich denke man muss in diesem konkreten Fall auch noch einmal die Ermittlungen vorantreiben."
Merkwürdige Stille um den Terroranschlag
War Ben Ammar in den Terroranschlag verwickelt? Und wurde er abgeschoben, damit seine Agententätigkeit geheim blieb? Innenministerium und Behörden stritten das bisher immer ab, unter Politikern und Experten ist die These hoch umstritten. Nicolas Stockhammer von der Uni Wien wundert sich jedenfalls darüber, wie wenig in der Öffentlichkeit über den ganzen Fall gesprochen wird. Nach dem Terroranschlag in der österreichischen Hauptstadt im vergangenen November sei das ganz anders gewesen, hier hätten Presse und Bürger einen wesentlich stärkeren Druck auf die Ermittlungsbehörden ausgeübt, um die Aufklärung über die Hintergründe der Tat voranzutreiben. Allerdings glaubt Stockhammer, dass sich das auch in Deutschland in den kommenden Monaten ändern werde, weil es noch zu weiteren Enthüllungen rund um den Anschlag von Berlin kommen werde. Die Behörden hätten bisher nicht die volle Wahrheit präsentiert, weil sie andere Ermittlungen nicht gefährden wollten und auch die ein oder andere Schludrigkeit beim Verfassungsschutz nicht ans Licht kommen sollte, aber: "Aus Sicht der Öffentlichkeit denke ich, dass es eine grundsätzliche Berechtigung gibt, dass man die Vorgänge offenlegt und auch zur Diskussion stellt."