Aufruhr unter Jägern in MV: Lügt ihr Präsident?
Gegen den Präsidenten des Landesjagdverbandes, Thomas Nießen, stehen schwere Vorwürfe im Raum. Nießen soll sein Ehrenamt mehrfach missbraucht, gegen die Positionen der Jägerschaft gestimmt und so dem Verband großen Schaden zugefügt haben. Dabei geht es um die Änderung des Landesjagdgesetzes. Nießen bestreitet die Vorwürfe.
Ingo Röpcke ist erschüttert. Der passionierte Jäger und ehrenamtliche Vorsitzende des Kreisjagdverbandes Rostock/Hansestadt Rostock fühlt sich nicht mehr vertreten von Thomas Nießen. NIeßen ist Präsident des Landesjagdverbandes (LJV), des mit rund 10.000 Mitgliedern zweitgrößten anerkannten Naturschutzverbandes in Mecklenburg-Vorpommern. "Es ist verrückt", sagt Röpcke, "so zu agieren entgegen der Meinung der Landesjägerschaft. Er tritt unsere Jagdethik, unsere Waidgerechtigkeit mit Füßen. Das ist eine Verbandsschädigung ohne gleichen. Dafür gibt es keine gesunde und keine logische Erklärung." Ingo Röpcke erfährt am 13. Oktober 2023 aus einer Pressemitteilung des Landwirtschaftsministeriums, dass sein Präsident gegen die eigentlich klar formulierte Position des Landesjagdverbandes gestimmt hat. Die Abstimmung, um die es geht, liegt da schon elf Wochen zurück.
Landwirtschaftsministerium will "Mindestabschuss"
Konkret geht es um den Paragrafen 21 "Abschussregelung" im Entwurf zum neuen Landesjagdgesetz. Eine Abschussplanung für Rehwild soll komplett wegfallen. Für bestimmte Altersklassen beim Rot- und Damwild sollen nur noch Mindestabschüsse vorgegeben werden. Bislang gilt eine maximale Abschusshöhe, nun sollen die Jägerinnen und Jäger ohne jede Begrenzung nach oben schießen dürfen. Das Landwirtschaftsministerium argumentiert, dass mithilfe der neuen Regelung die Jäger flexibler auf höhere Wildbestände reagieren können. In der Diskussion geht es auch immer wieder um Verbissschäden im Wald durch Wild. Der Vorwurf der möglichen Ausrottung von Dam- und Rotwild sei von der Fachbehörde geprüft worden, heißt es aus dem Ministerium. So heißt es im Gesetzentwurf beispielsweise, dass der Abschuss des Wildes so zu regeln sei, dass ein artenreicher und gesunder Wildbestand erhalten bleibe.
"Mindestabschuss ermöglicht Totalabschuss"
Jäger Ingo Röpcke sieht in der neuen geplanten Regelung die Gefahr eines möglichen Totalabschusses, der Wildarten hierzulande ausrotten könnte. Die genetische Vielfalt sei in Gefahr, und die Regelung sei so nicht im Sinne des Tierschutzes. Wenn der Paragraf so komme, könnten auch Muttertiere erlegt werden und Nachwuchs, etwa Hirschkälber, könnte verwaisen. Genauso argumentiert auch der Landesjagdverband in seiner Stellungnahme zur Gesetzes-Novelle, unterschrieben von Präsident Thomas Nießen. Allerdings hat der Präsident der Jägerschaft genau dieser von seinem Verband abgelehnten Regelung zugestimmt.
Präsident fühlt sich fehlinterpretiert
Wir bitten Thomas Nießen, im NDR Interview Stellung zu den Vorwürfen zu nehmen. Seine Assistenzhündin Emma begleitet ihn zum Gespräch. Etwa eine halbe Stunde lang erläutert der Rüganer im Interview, dass er sich fehlinterpretiert fühle und selbst auch gegen diese neue Regelung sei: "Wir als Landesjagdverband haben uns ganz klar gegen einen Abschuss ohne eine Deckelung und ohne einen Rahmen ausgesprochen. Wir sehen, dass wir damit gegen geltendes internationales und nationales Recht auch verstoßen würden." Thomas Nießen meint damit die Berner Konvention und sagt weiter: "Dort ist ganz klar beschrieben, wie 'nachhaltig' definiert wird, das heißt, dass wir eine reproduktionsfähige Population haben müssen." Nießen verweist auf eine genetische Vielfalt, die das Wild benötigt, um sich gesund entwickeln zu können.
Abstimmung im Jagdbeirat
Dem NDR liegen Schreiben vor, aus denen hervorgeht, dass der Präsident des Landesjagdverbandes für die sogenannte Mindestabschuss-Regelung gestimmt hat. So geschehen auf der Sitzung des Jagdbeirates der Obersten Jagdbehörde am 31. Juli 2023. "Die Teilnehmer der besagten Sitzung bestätigten die korrekte Wiedergabe des Sitzungsverlaufs im Protokoll. Der Landesjagdverband hat sich gegenüber dem Landwirtschaftsministerium bis heute nicht schriftlich dazu geäußert", heißt es dazu schriftlich aus dem zuständigen Landwirtschaftsministerium. Auch Jörg Heydorn war als Vorsitzender des Ökologischen Jagdvereins mit Sitz in Rostock bei der besagten Sitzung dabei und betont, dass die Abstimmungssituation unmissverständlich war. "Das war eine ganz eindeutige Situation. Es lagen eindeutige Formulierungen seitens des Landwirtschaftsministeriums auf dem Tisch. Und Herr Nießen hat ganz eindeutig für genau diesen Vorschlag gestimmt." Dem Gremium gehören Vertreter aus unterschiedlichen Bereichen an, etwa der Land-, Forst- und Jägerschaft. Es berät und unterstützt Landwirtschaftsminister Till Backhaus (SPD), beispielsweise wenn Gesetze neu geschrieben werden.
Verband tauscht Nießen im Jagdbeirat aus
Mittlerweile scheint das eigenmächtige Vorgehen Nießens Konsequenzen im Landesjagdverband nach sich gezogen zu haben. Am 1. November 2023 teilt der Landesjagdverband auf seiner Internetseite mit, dass Vizepräsident Henning Wetzel künftig die Interessen des Verbandes im Jagdbeirat der obersten Jagdbehörde vertritt. Der promovierte Jagdrechtler ist bundesweit ein anerkannter Experte auf diesem Gebiet. Er vertritt den Verband nun auch bei politischen Anhörungen etwa im Schweriner Landtag, wenn es um juristische Aspekte der Neugestaltung des Landesjagdgesetzes geht. So steht es in der Pressemitteilung des Verbandes.
Nießen in Erklärungsnot
In einer Email-Anfrage bitten wir Landesjagdpräsident Nießen erneut, sich klar zu äußern, ob er für oder gegen die Mindestabschussregelung gestimmt hat. Er antwortet schriftlich. "Einer Zustimmung zu den Formulierungen des Absatzes 2 in der Fassung vom 30.06.2023, welcher die Grundlage der Stellungnahme des LJV MV war, erfolgte nicht. Dies ist auch aus dem Protokoll ersichtlich." Aus dem besagten Protokoll des Jagdbeirates geht jedoch eine Zustimmung hervor. Es liegt dem NDR vor.
Erneuter Alleingang
Im Vorfeld der Landeshubertusmesse in Greifswald am 4. November 2023 hat Thomas Nießen eigenmächtig das Gespräch mit Landwirtschaftsminister Till Backhaus gesucht. Eine Ministeriumssprecherin bestätigt das auf Nachfrage des NDR. In dem Gespräch habe der Minister lediglich deutlich gemacht, dass er zu seinem Wort stehe und die von Thomas Nießen mitgetragene Fassung zur Abschussregelung ins Gesetz einfließen soll. Kreisjägerchef Ingo Röpcke kann nur mit dem Kopf schütteln, zum einen deshalb, weil es noch immer beim umstrittenen Mindestabschuss bleiben soll und weil zum anderen dieses Ministertreffen ein weiterer Beweis für den erneuten Alleingang des LJV-Präsidenten ist. Ingo Röpcke war selbst dabei, als das erweiterte Präsidium Fachmann Henning Wetzel bestimmt hat, der nun die Verhandlungen über das neue Jagdgesetz für den Verband führen soll.
Präsident soll zurücktreten
Unterdessen werden in der Jägerschaft immer mehr Stimmen laut, die den Rücktritt Nießens fordern. "Der einfachste Weg - und das ist auch das, was die Jägerschaft verdient hat - ist der Rücktritt, um die Sache freizumachen für einen Neuanfang für den Verband, um weiteren Schaden von unserer Verbandsarbeit abzuwenden", so Ingo Röpcke, Chef des Kreisverbandes Rostock/Hansestadt Rostock. Der Kreisverband ist mit 600 Mitgliedern einer der größten unter den zwölf Regionalverbänden im Land. Laut Röpcke haben sich seinem Aufruf bereits die Kreisjagdverbände Güstrow und Parchim angeschlossen. Insgesamt zählt der Landesjagdverband rund 10.000 Mitglieder und das sind laut Landwirtschaftsministerium 64 Prozent der Jagdscheininhaber des Landes.
Rücktritt ist keine Option
Der NDR konfrontiert den Landesjagdpräsidenten mit dieser Rücktrittsforderung. "Wir haben noch viel zu viel Arbeit vor uns, und solange diese Arbeit da ist, werde ich diese Arbeit annehmen und auch umsetzen", entgegnet Nießen. Aktuell befindet sich der Entwurf zur Landesjagdgesetzes-Novelle im Landtag. Am 10. Januar 2024 ist im Schweriner Schloss eine öffentliche Experten-Anhörung geplant. Dort soll noch einmal über den Inhalt des Entwurfs diskutiert werden. Das Landwirtschaftsministerium geht davon aus, dass das novellierte Landesjagdgesetz zum kommenden Jagdjahr am 1. April 2024 in Kraft treten kann.