Kommentar: Viel Zeit bleibt nicht, um die Bildung zu retten
Das neue Schuljahr hat in einigen Bundesländern bereits begonnen. Doch in vielen Schulen gibt es die gleichen Probleme wie vorher: zu wenig Lehrkräfte, zu wenig Unterricht, unerwartet viele Schülerinnen und Schüler. Unerwartet? Alles sei vorhersehbar gewesen - aber offenbar konnte oder wollte niemand reagieren, meint Hendrik Brandt, Chefredakteur in der Madsack Mediengruppe, in unserem Wochenkommentar.
Entschuldigen Sie die Frage: Haben Sie eine Berufsausbildung? Oder gar ein Studium hinter sich? Mögen Sie wenigstens den Umgang mit Kindern und Jugendlichen? Dann könnten Sie sich sofort bei der nächsten Schulbehörde melden. Die nehmen dort zum anstehenden Ferienende fast jeden, um all die Löcher zu stopfen, die sich bei der Unterrichtsversorgung und der Betreuung nun wieder auftun.
Bedarf steht in der Regel mindestens sechs Jahre vorher fest
Es ist eines der vielen Mysterien unserer Bildungslandschaft: All die hochmögenden Ministerialdirigentinnen und Schulräte samt der politisch Verantwortlichen wissen mindestens mit sechs Jahren Vorlauf, wie viel Bedarf an Unterricht sie in ihren Schulen pro Jahrgang so in etwa haben werden.
Jedes Bundesland kennt seine Zahlen. Aber 16 Mal heißt es seit vielen Jahren zum Ferienende: "Tut uns leid, wir werden es nicht hinbekommen, dass alle Kinder so unterrichtet werden, wie wir es selber gern hätten." Das ist in manchem Bundesland schlimmer als im anderen - aber das Kernproblem treibt alle um.
Erbärmliche Bildungswirklichkeit
Nehmen wir das Beispiel Niedersachsen, wo die Schule in dieser Woche bereits wieder begonnen hat. Etwa 841.000 Schülerinnen und Schüler sind dort jetzt in mehr oder weniger vorzeigbare Klassenräume getobt. Das sind 29.000 mehr als vor Jahresfrist. Selbst wenn man davon absieht, dass ungefähr 18.000 von ihnen ukrainische Flüchtlinge sind (die ja auch nicht alle in den letzten sechs Wochen kamen) hätte man daraus schon vor geraumer Zeit ableiten können, dass man wohl mehr Lehrkräfte und Betreuungspersonal braucht.
Stattdessen gibt das Land ganz offen zu, dass es für alle Schulpflichtigen einmal mehr nicht reichen wird. Sinn-arme Beschäftigung in Vertretungsstunden, nicht selten improvisierter Unterricht durch Aushilfen oder schlicht der Ausfall eines halben Schulvormittags bleiben Teil einer erbärmlichen Bildungswirklichkeit. Die zuständige grüne Ministerin Julia Willie Hamburg spricht jetzt wahlweise von einem "Marathonlauf" oder einem "Weg der 1.000 Schritte", wenn sie gefragt wird, wie sie diese Unterbesetzung in den Lehrerzimmern in den Griff bekommen will.
Lehrerberuf mit vielen Herausforderungen
Aber nur auf die Kultusbürokratie oder die Politik einzuprügeln, wäre zu einfach. Der Fachkräftemangel an den Schulen überall in der Republik - der im Übrigen den Fachkräftemangel im späteren Wirtschaftsleben munter befördert - hat nicht nur etwas mit dem Angebot, sondern auch mit der Nachfrage zu tun.
Wer sich heute noch auf den Lehrerberuf mit all seinen Herausforderungen von der zähen Digitalisierung bis zur überstürzten Inklusion einlässt, ist mit vielleicht guten Gründen wählerisch. Und kann sich den Job eben auch aussuchen. Insofern ist es gut, dass sich zumindest die Einstiegsgehälter bundesweit langsam angleichen; der Wettbewerb auf diesem Gebiet war schon immer kaum zu verstehen.
Einige Lehrkräfte haben wohl auch seltsame Vorstellungen
Eine andere Frage aber ist, wer es sich überhaupt noch zutraut, in einer sich anspruchsvoll wandelnden Gesellschaft gleichsam besser: buchstäblich vorn zu stehen - und Kenntnisse, Fähigkeiten und vielleicht auch so etwas wie Lebensklugheit zu vermitteln. Wie anderenorts wachsen auch bei vielen Lehrerinnen und Lehrern die Wünsche nach mehr "Life" und weniger "Work" mittlerweile in seltsame Regionen: "Arbeit mit voller Stundenzahl? Ich weiß nicht...", "Eine Stelle auf dem flachen Land? Och, eher nicht...", "Unterricht in Problemgebieten? Sollen andere machen...".
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft will in einer aktuellen Umfrage sogar herausgefunden haben, dass angehende Lehrerinnen und Lehrer einen "Praxisschock" bekämen, wenn sie zum ersten Mal regelmäßig im Unterricht eingesetzt werden. Natürlich muss man das erstmal ernst nehmen und die Ausbildung überprüfen. Aber man könnte sich auch dezent fragen, nach welchen Kriterien und mit welchem Vorwissen die angehenden Lehrkräfte sich eigentlich ihren Beruf ausgesucht haben.
Kampf gegen das ewige Achselzucken
Offensichtlich wäre es also doch nicht ganz dumm, wenn jetzt mehr Menschen aus anderen Berufen und mit mehr Erfahrung im Leben dem Ruf der Kultusministerinnen und -minister folgen - und es einfach einmal ausprobieren mit dem Quereinstieg in den Schulen. Vielleicht könnte eine - naja - vorausschauende Bildungspolitik sogar Wege finden, das als Standard weiterzuentwickeln - aber nicht um Löcher zu stopfen, sondern um unsere Schulen schlicht besser zu machen.
Am Ende geht es ja um nicht weniger als um den Kampf gegen das ewige Achselzucken, die vielfache Resignation angesichts komplexer Aufgaben in diesem Land. Wo soll man da ansetzen, wenn nicht bei den Kindern? Deutschland hat eine entscheidende Kernkompetenz: das Wissen, das Können - die Bildung also im umfassenden Sinn. Auf allen Ebenen, vom Handwerker bis zum Professor. Wenn es nicht gelingt, sie auf einem überdurchschnittlich hohen Stand zu halten, wird es auch an vielen anderen Stellen bergab gehen. Viel Zeit bleibt da übrigens nicht mehr.
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