Turkologe: "Die Erdogan-Unterstützung ist hier tief verwurzelt"
Recep Tayyip Erdogan und Kemal Kilicdaroglu liefern sich laut Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen bei der Präsidentschafts- und Parlamentswahl in der Türkei. Egal, wer am 14. Mai gewinnt, es brauche zwischen Deutschland und der Türkei eine neue Gesprächskultur, sagt der Turkologe Raoul Motika.
Seit Donnerstag ist es auch für Menschen mit türkischem Pass von Deutschland aus möglich zu wählen - mit etwa 1,5 Millionen Menschen ist es die mit Abstand größte Wählerschaft im Ausland weltweit. Von denen würde eine deutliche Mehrheit Erdogan wählen, davon geht zumindest der Turkologe Prof. Dr. Raoul Motika aus. NDR Info hat mit dem emeritiertem Professor und stellvertretendem Sprecher vom "TürkeiEuropaZentrum" der Universität Hamburg gesprochen.
Recep Tayyib Erdogan ist seit mehr als 20 Jahren an der Macht. Nun liefern sich der amtierende Präsident und Herausforderer Kemal Kilicdaroglu laut Umfragen ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Die Schlagworte Erdbeben und russischer Angriffskrieg fallen oft. Aber wie tief verwurzelt ist die mögliche Abkehr von Erdogan tatsächlich?
Raoul Motika: Da gibt es drei tiefergehende Gründe: Demografie, Wirtschaft, Politik. Die Türkei ist ein sehr junges Land, der Altersdurchschnitt ist wesentlich niedriger als in Deutschland. Die nachrückenden Wähler kennen das politische Chaos vor Erdogan - auf das Erdogan selbst stets verweist - nicht. Und da ist es ganz natürlich, dass alles Gute wie Schlechte nur mit ihm verbunden wird. Außerdem erlebt die Jugend - wie überall - einen Wertewandel, einen Kulturwandel in der Türkei. Ein hoher Anteil studiert, es gibt eine Demokratisierung der Bildung, insbesondere in der Stadt. Womit wir bei der Verstädterung wären. Mehr als 80 Prozent der türkischen Bevölkerung lebt in Städten. Die vermeintliche Idylle auf dem Land ist längst vorbei. Hinzu kommen die Wirtschaftskrise, die enorme Inflation, die - je nach Zählung - zwischen 50 und 80 Prozent liegt. Da rücken auch die Pragmatiker, die keine klare Haltung für oder gegen das Kopftuch zum Beispiel haben, von Erdogan ab. Sie möchten nur, dass es ihnen einigermaßen gut geht,
Hinzu kommen die politischen Gründe - die steigende Unterdrückung, was wieder die Jugend insbesondere merkt: Wenn an Universitäten gespitzelt wird, wenn Festivals abgesagt werden, weil eine regimekritische Künstlerin auftritt. Der freie Gebrauch der Muttersprache ist noch weit von dem entfernt, was Kurden fordern. Die Gleichberechtigung der Aleviten ebenso. Und dann sind selbst Kernwähler weggebrochen mit islamistischen Werten. Und das alles in einer Zeit, in der ein Unionsbündnis von extrem nationalistisch bis links-nationalistisch sich zusammengetan und ein über 200 Seiten langes Wahlprogramm hervorgebracht hat, mit einem gemeinsamen Spitzenkandidaten.
In Deutschland sieht das zumindest offizielle Stimmungsbild anders aus. 2018 hat Erdogan beispielsweise in Hamburg rund 59 Prozent der Stimmen der Wahlberechtigten bekommen, mehr als im eigenen Land. Laut Umfragen liegt Erdogan noch immer deutlich vorn. Wie erklären Sie das?
Raoul Motika: Hier ist zunächst wichtig zu differenzieren. "In Deutschland haben die Deutsch-Türken so und so gewählt", das ist blödsinnig. Hier sind nur Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit wahlberechtigt. Von den rund drei Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund hat mehr als die Hälfte den türkischen Pass abgelegt. Die dürfen gar nicht wählen. Deshalb ist dieser Shitstorm, der auf die Deutsch-Türken niedergegangen ist - dass die alle erzkonservativ wären, Demokratieverächter - in keinem Fall schlüssig. Die gehören Minderheiten in der Türkei an, sehen ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland, wurden politisch verfolgt. Die würden mit großer Mehrheit Erdogan nicht wählen. Von denen, die wählen dürfen, haben etwa nur die Hälfte gewählt. Das macht im Einzugsbereich des Hamburgischen Generalkonsulats, wozu auch Schleswig-Holstein zählt, maximal etwa 44.000 Wähler.
Dennoch bleibt es dabei: Die, die wahlberechtigt sind, wählen mehrheitlich Erdogan. Warum?
Raoul Motika: Hier spielen mehrere Faktoren eine Rolle. In Deutschland gibt es eine weite Mehrzahl derjenigen, die einen ländlichen, konservativen, ärmeren Hintergrund haben. Die Erdogan-Unterstützung ist hier tief verwurzelt. Diese konservative Familientradition besteht weiter über die Jahre. Das können Familien sein, die in Deutschland kleinere Unternehmen leiten, deren Frauen gar kein Kopftuch tragen und die sich aber als konservative Wähler der AKP beschreiben würden.
Und dann kommt noch eins hinzu: Das Gefühl in Deutschland als beispielsweise kulturell, politisch, wirtschaftlich zurückgeblieben angesehen zu werden. 'Irgendwie sehen die einen ja, aber immer von oben herab'. Und wenn dann eine autoritäre, populistische Führerpersönlichkeit mit tief verwurzeltem Männlichkeitskult an der Macht ist, sich der Welt gegenüber als mächtiger Mann darstellt, die Türkei wirtschaftlich vorangebracht hat, all das gibt dann über den Umweg Erdogan auch den Menschen hier, die sich in Deutschland zurückgesetzt fühlen, ein deutliches Selbstbewusstsein. Das Stolz-darauf-zu-sein, Türke zu sein. Und wenn Sie dann einmal im Jahr in die Türkei fahren, Krankenhäuser mit besseren Standards sehen beispielsweise, den Modernisierungsschub sehen, dann ist das doch erstmal beeindruckend für viele Menschen.
Inwiefern ist tatsächlich mit einem Wertewandel innerhalb der Türkei zu rechnen - mit einer neuen Beziehung zu Deutschland, sollte das Oppositionsbündnis gewinnen?
Raoul Motika: Das Selbstbewusstsein der Türkei wird weiterhin existieren, was ja auch gut ist. Die Türkei dürfte sich bei so einem Wahlausgang etwas mehr "pro Ukraine" verschieben, aber nicht all zu sehr, weil auch hier eine pro-russische-Strömung existiert. Auch der schwedische Beitritt zur NATO dürfte noch zu diskutieren sein. Aber man kann sagen, dass man es dann mit einer rationaleren, nicht Konflikt eskalierenden Außenpolitik zu tun haben wird. Siehe Visa-Einreisen, Einhaltung von Menschenrechtskonventionen. So würde ein neuer Geist in die Beziehungen einfließen. Wenn auf europäischer Seite ebenfalls entsprechend gehandelt würde. Auch Europa wäre gefordert, Schritte auf die Türkei zuzugehen. Zu zeigen: 'Wir sind jetzt froh, einen neuen Partner zu haben, wir beginnen eine neue Ära der Beziehung'.
Und was, wenn bei den Wahlen Erdogan und sein Bündnis gewählt würden? Was würde das für die Beziehungen zur EU und zu Deutschland insbesondere bedeuten?
Auch dann wird man versuchen müssen, für einen Neuanfang neue Grundlagen zu schaffen. Sprich, eine neue Gesprächskultur zu entwickeln. Es ist sicherlich problematisch, einen NATO-Partner zu haben, der nach der Meinung der Mehrheit der NATO-Staaten unzuverlässig ist, der Konflikt eskalierend ist. Es gibt sehr viele außenpolitische Streitpunkte, von der Flüchtlingsproblematik und Syrien mal ganz abgesehen. Dann müsste man versuchen, eine neue Gesprächskultur zu entwickeln: Was sind unsere gemeinsamen Interessen, wo gibt es Unterschiede, um bei den wichtigen Dingen weiterzukommen?
Die EU und gerade auch Deutschland will ja unabhängiger von China werden, wirtschaftlich. Hier hat sich die Türkei auch angeboten, die Lieferketten zu verkürzen, ein guter Wirtschaftspartner zu sein. Das hängt natürlich ganz stark mit Rechtsstaatlichkeit zusammen. Aber darauf ist Erdogan sehr stark angewiesen. Er hat seiner Mehrheit nichts anderem zu verdanken als dem wirtschaftlichen Erfolg. Und eine funktionierende Wirtschaft beruht nunmal auf Steuereinnahmen.
Das Interview führte Lisa Hentschel