Andrea Stolte, Projektmanagerin für Geisternetze bei der Umweltstiftung WWF, während einer Rolltrossen-Bergung zwischen Glowe und Kap Arkona, Nordrügen, mit dem Fischkutter "SAS 107 Crampas" des Fischereibetriebs Erler. © WWF / Stefan Sauer
Andrea Stolte, Projektmanagerin für Geisternetze bei der Umweltstiftung WWF, während einer Rolltrossen-Bergung zwischen Glowe und Kap Arkona, Nordrügen, mit dem Fischkutter "SAS 107 Crampas" des Fischereibetriebs Erler. © WWF / Stefan Sauer
Andrea Stolte, Projektmanagerin für Geisternetze bei der Umweltstiftung WWF, während einer Rolltrossen-Bergung zwischen Glowe und Kap Arkona, Nordrügen, mit dem Fischkutter "SAS 107 Crampas" des Fischereibetriebs Erler. © WWF / Stefan Sauer
AUDIO: Verlorene Fischernetze: Gefährlicher Meeresmüll (4 Min)

Todesfalle Geisternetze - Plastikmüll in der Ostsee auf der Spur

Stand: 28.05.2024 06:00 Uhr

Verlorenes Fischfangmaterial macht rund die Hälfte des Plastikmülls in den Ozeanen aus. Neue Forschungsansätze erlauben eine bessere Ortung von Geisternetzen. Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und der Bund beteiligen sich an der Suche nach Lösungen.

von Thomas Samboll

Es ist der Moment, wo die Crew an Bord der "Seefuchs" regelmäßig die Luft anhält: Wenn Taucher Jochen sein Spezialmesser gezückt hat, um tief unter dem alten Fischkutter auf dem Grund der Ostsee einem alten Fischernetz den Rest zu geben. Ein langer Luftschlauch und das Funkgerät verbinden ihn mit den Kollegen an Deck. Denn das Netz, das sich dort unten um ein vor Rügen untergegangenes Schiff gewickelt hat, bedroht nicht nur die Meeresbewohner. Auch Taucher könnten sich darin verheddern und in Lebensgefahr geraten. Aber auch dieses Mal klappt alles wie am Schnürchen.

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Schon bald könnten Jochen und seine Kollegen häufiger zum Einsatz kommen. Denn Mecklenburg-Vorpommern macht Ernst im Kampf gegen Netzmüll im Meer. Bis 2029 stellt das Land knapp 1,5 Millionen Euro aus dem Europäischen Meeres-, Fischerei- und Aquakulturfonds bereit, um verlorenes Fanggerät in der Ostsee zu suchen und zu bergen. Ein gemeinsames Pilotprojekt mit der Umweltschutzorganisation WWF hatte dazu 2,5 Jahre lang wichtige Erkenntnisse geliefert.

Fischer helfen bei Suche und Bergung

Andrea Stolte, Projektmanagerin für Geisternetze bei der Umweltstiftung WWF © picture alliance/dpa | Frank Molter
Andrea Stolte vom WWF hat vor Rügen einheimische Fischer in die Bergung verlorener Fangnetze einbezogen.

Besonders wichtig war Projektleiterin Andrea Stolte, die örtlichen Fischer in die Suche und die Bergung mit einzubeziehen. "Die letzten paar Kutter, die es hier, zum Beispiel in Sassnitz, noch gibt, die sind mit uns draußen gewesen, haben mit uns geborgen", sagt die Umweltwissenschaftlerin vom WWF, "kleinere Netzteile, auch Stellnetze bis 300 Meter Länge, die sehr vertüddelt waren am Grund, haben wir wunderbar mit kleinen Kuttern bergen können."

An größeren Netzen können Taucher eine Boje befestigen, die Kutter ziehen dann Boje samt Netz ganz einfach aus dem Wasser. Wenn das nicht möglich ist, müssen spezielle Arbeitsschiffe und Bergungstaucher zum Einsatz kommen. Insgesamt wurden im Rahmen des Pilotprojekts rund 7,5 Tonnen Netzmaterial geborgen, sagt Andrea Stolte.

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Auch Schleswig-Holstein und der Bund werden aktiv

Das hat offenbar Schleswig-Holstein beflügelt: Das nördlichste Bundesland hat im vergangenen Herbst nach MV-Vorbild ebenfalls ein Pilotprojekt mit dem WWF gestartet, das zwei Jahre lang laufen soll. Und auch der Bund ist aktiv geworden: Deutschland hat sich der "Global Ghost Gear Initiative" (GGGI) angeschlossen. Das ist eine internationalen Initiative von Regierungen, Wissenschaft und Fischerei, die verlorene Netze bergen und den Verlust von Fanggerät verhindern will.

Eine rechtliche Verpflichtung ist damit zwar nicht verbunden. Dennoch freut sich Andrea Stolte über diese Entscheidung: "Es wird jedes Jahr mit den Vertretern der Länder besprochen: Was ist denn bei euch passiert? Das heißt, es gibt schon einen moralischen Druck, da etwas zu tun und etwas vorzuweisen."

Tödliche Fallen für Seevögel und Meeresbewohner

Zu tun gibt es reichlich. Sogenannte Geisternetze, die im Meer umhertreiben, und anderes Fischfangmaterial machen laut Studiendaten mittlerweile weltweit rund die Hälfte des Plastikmülls in den Ozeanen aus. Netze und Leinen werden oft zur tödlichen Falle für Seevögel, Fische, Schweinswale und andere Meerestiere. Der Biologe Daniel Stepputtis erforscht deshalb am Thünen-Institut für Ostseefischerei in Rostock, wie sich Netzverluste verhindern lassen. Er plädiert dafür, Fischernetze grundsätzlich so zu kennzeichnen, dass sie für andere Schiffe sichtbar werden.

Dafür könne ein Ortungssystem genutzt werden, das in der Schifffahrt gang und gäbe sei: "Schiffe informieren sich gegenseitig darüber, wo sie sind und wie schnell sie sind, durch das sogenannte Automatic Identification System - AIS. Das ist natürlich sinnvoll, dass der Kapitän eines Schiffes das sogar auf seiner Seekarte sehen kann, denn dort sind andere Schiffe auch eingeblendet.“ Aber leider habe die Weltschifffahrtsbehörde IMO solche Ortungssender noch nicht für Fischernetze zugelassen, bedauert der Biologe.

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Eine andere Möglichkeit wären sogenannte Notfall-Bojen, die am Netz befestigt werden und mit denen norwegische Fischer schon gute Erfahrungen gemacht hätten. Dahinter verbergen sich kleine Schwimmkörper mit einer aufgewickelten Leine: "Da stellt der Fischer das anfangs ein und sagt: Wenn ich das Netz nicht zum Beispiel nach fünf Tagen hochgehoben habe, dann geht dieser Auftriebskörper nach oben, so dass das Netz wiedergefunden werden kann, wenn alle anderen Markierungen des Netzes verloren gegangen sind", erklärt Stepputtis.

Thünen-Forscher Stepputtis: Netzbergung nicht immer nötig

Daniel Stepputtis (l.), Biologe und Fischereitechniker des Thünen-Instituts für Ostseefischerei, spricht an Bord des Fischereiforschungsschiffes "Solea" auf der Ostsee vor Kühlungsborn mit Fischern, die ein Schleppnetz für den nächsten Einsatz mit Kameras ausstatten sollen. © picture alliance/dpa | Bernd Wüstneck
Daniel Stepputtis (l.) vom Thünen-Institut erkennt in verlorenen Fischernetzen manchmal auch neue Ökosysteme.

Eine Netzbergung kostet viel Geld. Deshalb sollte man die zur Verfügung stehenden Mittel gezielt zur Verhinderung von Netzverlusten einsetzen, findet Daniel Stepputtis. Eine Bergung hält er dagegen dann für nicht zwingend nötig, wenn die Natur darauf ein neues Ökosystem geschaffen hat und die Netze zum Beispiel dicht mit Muscheln bewachsen sind: "Aus meiner Sicht ist es zwar schön, dass man sagt: 'Mensch, ich habe zehn Tonnen Netz geborgen.' Aber wenn dann davon die Hälfte Lebewesen sind, die da drauf gewachsen sind, dann war das vielleicht nicht die höchste Priorität." Ganz anders sei das mit den gefährlichen "Geisternetzen", die auch in der Ostsee umhertreiben und weiter Meeresbewohner fangen. Solche Netze sollte man auf jeden Fall aus dem Wasser holen.

Andrea Stolte vom WWF dagegen würde lieber jedes Netz bergen, weil Plastiknetze grundsätzlich kein gesunder Lebensraum für Tiere und Pflanzen seien: "Das wird Mikroplastik, das zersetzt sich mit den Jahren und macht über Jahrhunderte Schaden durch Eintrag von Mikroplastik in die Umwelt und die Nahrungskette. Jedes Netz, das rauskommt, ist langfristig besser für die Meeresumwelt!"

Weitere Informationen

WWF zum Start des Pilotprojekts in Schleswig-Holstein

Pressemitteilung: WWF koordiniert Suche, Bergung und Entsorgung von Geisternetzen in der Ostsee (2.10.2023) extern

WWF zum Ende des Pilotprojekts in Mecklenburg-Vorpommern

Pressemitteilung WWF: Landes-Pilotprojekt für verlorene Fischernetze in Mecklenburg-Vorpommern erfolgreich abgeschlossen (20.3.2024) extern

Umweltministerium Mecklenburg-Vorpommern zu Geisternetzen

Pressemitteilung: Verkannte Gefahr: Geisternetze bedrohen Meereslebewesen (30.9.2019) extern

Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft zur "Global Ghost Gear Initiative"

Pressemitteilung: Plastikmüll bekämpfen - Deutschland tritt internationaler Initiative gegen "Geisternetze" bei (13.11.2023) extern

WWF sieht Verbesserungsbedarf

Suche und Bergung kommen allerdings häufig nur schwer in Gang, weil die Zuständigkeiten immer noch nicht klar geregelt sind. Laut europäischem Fischereirecht sind Fischer dazu verpflichtet, Netzverluste zu melden, wenn sie ihr Fanggerät nicht selber bergen können. In der Praxis ist das aber gar nicht so einfach, weil die regionalen Meldestellen der Wasserstraßen- und Schifffahrtsämter des Bundes oder die Landesämter nicht ohne Weiteres eine teure Netzsuche und Netzbergung veranlassen können. In seinem Abschlussbericht zum Pilotprojekt in Mecklenburg-Vorpommern empfahl der WWF deshalb, die Meldewege zu vereinfachen.

Spezialfirma in SH recycelt Metall aus alten Netzen

Außerdem fehle es an geeigneten Anlandestellen für alte Netze. Entsprechende Verbesserungen und die Einbindung der Fischerei würden die Erfolgsaussichten erhöhen, um das Problem langfristig in den Griff zu bekommen. Immerhin: Es gibt Fortschritte bei der Entsorgung. In einem Fachbetrieb in Schleswig-Holstein werden nun erstmals Metallteile und Bleileinen aus den Netzen entfernt und recycelt. Das Plastik selber ist dagegen oft zu stark verunreinigt und aus unterschiedlichen Materialien zusammengesetzt, die nur schwer getrennt werden können. Deshalb werden Netze bisher in der Regel nicht recycelt, sondern landen in der Müllverbrennung

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