Spätfolgen von Kinderkrebs
Jedes Jahr erkranken fast 2.300 Kinder und Jugendliche in Deutschland an Krebs. Ihre Heilungschancen sind meist relativ gut - aber die Therapie selbst kann schwere Spätfolgen hinterlassen, von Herzproblemen bis zum Hörverlust. Ein Forschungsteam hat nun herausgefunden, wie groß diese Risiken sind und wo es noch Lücken in der Nachsorge gibt.
In der Lübecker Kinderkrebsstation des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein behandelt Chefarzt Thorsten Langer Kinder und Jugendliche mit Leukämie, Hirntumoren, Lymphomen oder auch selteneren Krebsarten. Über 80 Prozent von ihnen werden vom Krebs geheilt, meist mit Radio- oder Chemotherapie. Aber die Strahlen und starken Medikamente töten eben nicht nur die Krebszellen.
Krebsmedikamente zerstören Sinneszellen
Arzneimittel, die Platin enthalten, stören zum Beispiel die sensiblen Zellen im Innenohr, erklärt der Onkologe: "Sie führen zu einem Untergang der Sinneszellen, die für die hohen Töne zuständig sind. Man hat dann als Erstes eine Hochtonschwerhörigkeit." Bis zur Hälfte der Patient*innen sei davon betroffen und die Probleme könnten sich im Laufe der Zeit sogar noch verschlimmern. Manche müssten deswegen schon im Kindesalter Hörgeräte tragen.
Auch die Strahlentherapie im Kopfbereich birgt Risiken für das Gehör. Andere Krebsmedikamente, insbesondere Anthrazykline, sind bekannt dafür, dass sie gerade bei Kindern zu Herzproblemen führen können. Manchmal treten diese schon während der Behandlung auf. Sie können sich aber auch erst Jahre später zeigen. Und natürlich kann auch der Krebs selbst Schäden hinterlassen.
Datenlücke zu Spätfolgen
Wie oft diese Spätfolgen auftreten, wann und nach welchen Krebserkrankungen - dafür gab es in Deutschland bislang keine belastbaren Zahlen. Aber eine umfangreiche neue Studie kann diese Fragen jetzt beantworten.
Das VersKik-Projekt (Versorgung und Versorgungsbedarf von Personen nach einer Krebserkrankung im Kindes- und Jugendalter) hat hierfür riesige Datenmengen aus dem Deutschen Kinderkrebsregister und einer Therapiedatenbank mit Informationen von 13 Krankenkassen kombiniert. Die Krankenkassendaten geben Auskunft über die Gesundheit der Überlebenden in den Jahren nach der Krebsbehandlung. So lässt sich zum ersten Mal bestimmen, welche Krebsarten und -therapien welche Spätfolgen nach sich ziehen, und zwar noch bis zu 25 Jahre danach.
Eine Mammutaufgabe, sowohl wegen des Datenvolumens als auch der Anforderungen des Datenschutzes. Trotzdem: "Wir haben ungefähr 27.000 ehemalige Patienten wiederfinden und verfolgen können, was mit ihnen in der Zwischenzeit passiert ist, und wir können auch den Einfluss spezieller Therapien individuell berücksichtigen", so Studienleiter Professor Enno Swart von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. "Diese Verlinkung mit Einträgen aus dem Kinderkrebsregister ist in dieser Form wirklich neuartig, hat sehr gut geklappt, auch datenschutzrechtlich."
Deutlich mehr Hör- und Herzprobleme
Die vorläufigen Ergebnisse zeigen, dass ehemalige Krebspatient*innen ein doppelt so hohes Risiko für Herzprobleme haben wie Menschen ohne vorherige Krebserkrankung. Unter Kindern zwischen fünf und zehn Jahren mit Krebs-Vorgeschichte treten sie sogar sechs Mal so oft auf. Auch Hörverluste kommen zwei- bis dreimal so häufig vor. Kindern unter 10 Jahren erleiden nach einer Krebserkrankung zu 15% einen Hörverlust.
Die Studie liefert auch Daten zu Erkrankungen des Hormonsystems, wie zum Beispiel der Schilddrüse. Auch hier zeigt sich eine dreifache Erhöhung der Fallzahlen bei Menschen, die als Kind Krebs hatten. In der nächsten Auswertungsphase sollen außerdem psychiatrische Erkrankungen erfasst werden.
Verbesserte Nachsorge
Um solche schweren, bleibenden Gesundheitsschäden früh aufzufangen oder sogar, wo möglich, zu verhindern, sind Kontrolluntersuchungen extrem wichtig. Die Forschungsdaten zeigen allerdings auch, dass die Nachsorge verbessert werden könnte. Gerade wenn junge Menschen erwachsen werden und Ärztinnen oder Ärzte wechseln, gebe es oft einen Bruch in der Nachsorge, so die Autor*innen der Studie.
Daher müssten Ärzte aller Fachrichtungen für die möglichen Spätfolgen von Krebstherapien sensibiliert werden, so der Lübecker Onkologe Thorsten Langer, der am Projekt beteiligt war: „Damit zum Beispiel ein hinzugezogener Kardiologe nicht dem Patienten sagt 'Sie sind 35 – warum soll ich einen Herzultraschall machen? Sie sind doch gesund!'" Die Leitlinienempfehlungen müssten in der Praxis ankommen.
Lübecker Langzeitmodell macht Schule
Vor zehn Jahren hat Thorsten Langer in Lübeck mit einem spezialisierten Team eine Langzeitnachsorgesprechstunde eingeführt. Dorthin kommen Patientinnen und Patienten, die zwar als geheilt gelten, aber trotzdem weiterhin spezifische Untersuchungen und Beratung brauchen. Denn zwei Drittel von ihnen leben nach dem Krebs mit oft schweren chronischen Erkrankungen.
In der Langzeitnachsorge erhalten sie individuell abgestimmte Vorsorgepläne, Termine für zukünftige Untersuchungen und Tipps für einen gesunden Lebensstil - selbst Jahre oder sogar Jahrzehnte nach ihrer Krebserkrankung. So können Gesundheitsprobleme kontinuierlich behandelt oder auch früh entdeckt werden.
Die leitende Internistin Judith Gebauer freut sich, dass andere Kliniken das Schleswig-Holsteiner Modell übernommen haben. Zwölf Standorte seien es mittlerweile deutschlandweit, doch das sei bei Weitem nicht genug, um den Bedarf zu decken Und das, obwohl bislang weniger als zehn Prozent der Betroffenen das Angebot in Anspruch nähmen: "Die Zentren sind rappelvoll. Die Strukturen müssen ausgebaut werden. Und die, die es noch nicht wissen, müssen erreicht werden."
Auch das Forschungsteam der VersKik-Studie fordert mehr strukturierte Betreuungsprogramme für die 30.000 Menschen in Deutschland, die eine Krebserkrankung als Kind überlebt haben. Sie bräuchten außerdem bessere Informationen zu den Nachsorgemöglichkeiten und zur Bedeutung der weiteren Betreuung. Da die Studie vom Innovationsausschuss des Bundes gefördert wurde, sollten diese Erkenntnisse bald in die Praxis einfließen.