Seit Hamas-Angriff: Deutlich mehr antisemitische Vorfälle
Seit dem Hamas-Angriff auf Israel ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle hierzulande gestiegen. Das zeigen Zahlen des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS).
Beschmierte Häuser, entwendete Israel-Flaggen, Anfeindungen auf Social Media und Demonstrationen: Die Zahl der gemeldeten antisemitischen Vorfälle im Norden hat in den vergangenen Tagen zugenommen, wie RIAS am Mittwoch bekanntgegeben hat.
Laut des Verbands wurden den zuständigen Meldestellen seit dem Bekanntwerden des Hamas-Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 "zahlreiche antisemitische Vorfälle" in Deutschland geschildert. Ein aktueller Monitoringbericht des Verbands zeigt das Ausmaß: So wurden zwischen dem 7. Oktober und bis einschließlich 15. Oktober insgesamt 202 antisemitische Vorfälle Deutschland gemeldet - eine Zunahme von rund 240 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.
Rund ein Viertel der antisemitischen Vorfälle bundesweit wurde in Norddeutschland gemeldet. Die meisten gab es demnach in Niedersachsen: Dort wurden 21 Fälle in den neun Tagen nach dem Angriff der Hamas registriert. In Mecklenburg-Vorpommern waren es 19 antisemitische Ereignisse, die in den neun Tagen nach dem Angriff der Hamas gemeldet wurden. In Schleswig-Holstein waren es fünf, in Bremen vier und in Hamburg zwei gemeldete Fälle.
Die Grafik zeigt die absolute Zahl der gemeldeten antisemitischen Vorfälle. Setzt man die Fälle jedoch ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl des jeweiligen Bundesland, ergibt sich ein anderes Bild: So weist Mecklenburg-Vorpommern relativ gemessen die höchste Anzahl an antisemitischen Vorkommnissen in den vergangenen Tagen auf. Gefolgt von Bremen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg. Dieses Verhältnis zeigt die folgende Grafik:
Niedersachsen: Haustür einer jüdischen Frau mit Parole beschmiert
"Uns wurde gemeldet, dass an die Wohnungstür einer Jüdin die Parole 'Free Palestine' geschrieben wurde", berichtet Helge Regner, Mitarbeiter bei der RIAS-Landesstelle in Niedersachsen. In diesem Fall war das antisemitische Motiv klar erkennbar: 'Free Palestine' ist jetzt für uns keine antisemitische Parole, wenn sie ohne Kontext passiert - aber eindeutig antisemitisch, wenn das Wohnhaus einer Jüdin markiert wird", erklärt Regner.
Nicht nur in Niedersachsen kam es in den vergangenen anderthalb Wochen zu antisemitischen Vorfällen im Wohnumfeld von Betroffenen. Auch in Berlin und Nordrhein-Westfalen wurden solche Fälle gemeldet. Dort wurden Wohnhäuser mit Davidsternen beschmiert - Markierungen, die an Kennzeichnung von Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus erinnern.
Antisemitismus zeigt sich in verschiedenen Formen
Fachleute wie Helge Regner bezeichnen dieses Verhalten als 'Othering'. Das bedeutet: Jüdinnen und Juden werden als fremd oder nicht-dazugehörig zur jeweiligen Mehrheitsgesellschaft beschrieben - meist durch sichtbare öffentliche Markierungen. Dazu gehört zum Beispiel auch das Beschimpfen von Personen als "Jude" oder "Jüdin".
Mecklenburg-Vorpommern: Antisemitische Botschaft an jüdischer Einrichtung
Auch aus anderen Regionen im Norden wurde von antisemitischen Vorfällen dieser Art berichtet. So ereigneten sich Anfang der Woche in Rostock mehrere Vorfälle: Zunächst wurde am Montag ein Fenster der jüdischen Gemeinde in der Rostocker Stadtmitte mit einer mutmaßlich antisemitischen Botschaft beschmiert.
Die meisten Vorfälle von Antisemitismus beziehen sich direkt auf Israel
Neben dem 'Othering' gibt es auch andere Formen des Antisemitismus. Eine Variante zeigte sich in den vergangenen Tagen seit dem Angriff der Hamas besonders ausgeprägt: der israelbezogene Antisemitismus. Dabei richten sich antisemitische Aussagen gegen den jüdischen Staat Israel, etwa indem diesem die Legitimität abgesprochen wird.
Die neuen Zahlen der RIAS-Bundesstelle zeigen, dass diese Form des Antisemitismus aktuell in Deutschland dominiert: So fallen 91 Prozent der dokumentierten Vorfälle in diese bestimmte Kategorie des Antisemitismus. Insbesondere auf öffentlichen Versammlungen sei dieser israelbezogener Antisemitismus beobachtet worden, heißt es vom Verband.
Ein Beispiel: Auf einer Kundgebung am Potsdamer Platz in Berlin am 15. Oktober riefen Teilnehmende Parolen, die die Auslöschung Israels fordern. An anderer Stelle wurden die Hamas-Angriffe verherrlicht oder Israel die Schuld dafür gegeben.
Solche Kundgebungen gab es in den vergangenen Tagen auch in Norddeutschland. Auch dort wurden antisemitische Positionen beobachtet: "Wir haben Demonstrationen in Göttingen, Braunschweig und Hannover aktiv begleitet, beobachtet und dokumentiert, was gesagt und auf Plakaten geschrieben wurde", berichtet Helge Regner von der RIAS-Landesstelle Niedersachsen. "Alle drei Demonstrationen haben wir aufgrund der dort bekundeten Aussagen jeweils als antisemitischen Vorfall eingestuft", ergänzt er.
RIAS erfasst seit einigen Jahren bundesweit antisemitische Vorfälle
Die aktuellen Zahlen stammen aus dem bundesweiten Meldesystem des RIAS-Bundesverbands. Er ist der Dachverband der RIAS-Meldestellen und verfolgt das Ziel einer einheitlichen Dokumentation antisemitischer Vorfälle. Grundlage ist dabei die Arbeitsdefinition von Antisemitismus des International Holocaust Remembrance Alliance - eine Organisation, die unter anderem an den Holocaust erinnert und zu Antisemitismus aufklärt.
Auf der Webseite www.report-antisemitism.de können Betroffenen online und anonym antisemitische Vorfälle melden. Das System soll alltäglichen Antisemitismus sichtbar machen - daher können und sollen in dem Meldesystem auch ausdrücklich Fälle berichtet werden, die sich unterhalb der Schwelle zur Strafbarkeit befinden.
Nur verifizierte Vorfälle gehen in die Statistik ein
Die eingegangenen Meldungen werden dann genau geprüft: So stellen Mitarbeiter des Verbands Verständnisfragen, haken nach. Und: Nur Vorfälle, die von Mitarbeitenden des Verbands verifiziert worden sind, fließen in die offizielle Statistik mit ein.
Neben dem Bundesverband gibt es Meldestellen in jedem Bundesland. Diese dokumentieren nicht nur antisemitische Vorfälle, sondern unterstützen und beraten auch Betroffene vor Ort. In den aktuellen Bericht sind laut RIAS sowohl Vorfälle aus dem ganzen Bundesgebiet als auch von Meldestellen in elf Bundesländern eingeflossen.